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Tote Pracht

Tote Pracht

Titel: Tote Pracht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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seine
unerschütterliche Polizistenfassade war brüchig geworden; er sah bleich und
besorgt aus. Er setzte sich neben mich und nahm meine andere Hand, die
Anne-Marie nicht hielt. Dann legte er den Arm um mich, so daß er ihre Schulter
tätscheln konnte.
    »Irgendwas Neues?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Brustwunden — sehen manchmal schlimmer
aus, als sie sind.«
    »Er ist schon lange drinnen.«
    Anne-Maries Finger verkrampften sich
wieder, und mir wurde bewußt, daß ihr meine Worte nicht halfen. »Aber ich bin
sicher, daß es ihm bald wieder gutgeht«, fügte ich hinzu. »Da war nur soviel
Blut, und Hank — nun, Bewußtlosigkeit paßt einfach nicht zu ihm.« (Oh, Gott,
ich machte es nur noch schlimmer!) Halt den Mund! sagte ich zu mir.
    Anne-Marie erwiderte: »Hör auf, dich um
mich zu sorgen, Shar. Ich weiß, daß es schlimm ist, aber ich werde damit
fertig. Du hast allen Grund, durcheinander zu sein. Du hast Hank auch sehr
gern.«
    Dann schwiegen wir. Weiter hinten
begann ein Säugling zu schreien. Sein Gebrüll steigerte sich bis zu einem
Crescendo, das auch mich fast zum Brüllen brachte. Schließlich ging die Mutter
mit dem Kind nach draußen.
    Mir fiel auf, daß Greg den
Heckenschützen nicht erwähnt hatte. »Konntest du mit ihm sprechen?«
    Er fragte nicht, wen ich meinte. »Kurz.
Er war bei Bewußtsein und klar im Kopf; dein Schuß traf ihn oben in der
Schulter; keine ernsthafte Verletzung. Was er zugegeben hat, entspricht so
ziemlich deiner Theorie, und was er mir nicht sagen wollte, wußte ich schon von
Letterman.« Greg hatte die Informationen über John Weldon gerade erhalten, als
der Anruf einging, daß auf Hank geschossen worden war.
    Es war eigenartig, daß ich mich so
wenig für den Mann interessierte, den ich verfolgt und verwundet hatte. Es
kostete mich Anstrengung, zu sagen: »Erzähl mir von ihm.«
    »Er ist ein Superpatriot. War
Spionageoffizier der Armee in Vietnam. Offensichtlich entwickelte er einen James-Bond-Komplex
und bespitzelte Leute, die er für subversiv oder unloyal hielt. Mir gegenüber
sagte er, daß er besessen — oder wie er es ausdrückte ›berechtigtermaßen
besorgt‹ — war wegen der ›Friedensspinner‹, die sich im ›Rouge et Noir‹ trafen.
Er folgte ihnen und notierte ihre ›Verfehlungen‹.«
    »Aber das hat er nicht offiziell
getan?«
    »Nein. Als er die Informationen an
seinen Vorgesetzten weitergeben wollte, sagte der ihm, daß er sich nur um seine
Arbeit zu kümmern habe. Das ließ ihn noch fanatischer werden, und schließlich
beschloß man, ihn in die Staaten zurückzuschicken. Er wurde zweiundsiebzig aus
dem Dienst entlassen, und kurz danach hatte er seinen ersten
Nervenzusammenbruch, dem noch weitere folgten. Seitdem hat er den größten Teil
seines Lebens in Nervenheilanstalten verbracht, aber vor sechs Monaten schien
er geheilt zu sein, und man entließ ihn unter der Bedingung, daß er sich im
Letterman Hospital einer ambulanten Beratungstherapie unterziehe. Von da an
lief alles in etwa so ab, wie du es vermutet hattest.«
    Eine Weile lang sagte ich nichts und
starrte auf das karierte Linoleum zu meinen Füßen. Anne-Maries Hand war
schlaff; soweit ich es beurteilen konnte, hatte sie möglicherweise gar nicht
zugehört, als Greg den Mann beschrieb, der ihren Ehemann angeschossen hatte.
    Schließlich sagte ich: »Wir fangen erst
jetzt an zu erkennen, was uns der Krieg angetan hat. Er hat so viele Leute
kaputtgemacht; nicht nur die, die in Asien starben. Und es hat alle
gleichermaßen getroffen — Kriegsgegner, Kriegstreiber, Zivilist, Militär,
Amerikaner, Vietnamese. Wir sind alle auf die eine oder andere Weise verwundet
worden...«
    Plötzlich umklammerten Anne-Maries
Finger die meinen. Ich schaute sie an und merkte, daß sie einen Chirurgen in
einem blutverspritzten Kittel anstarrte, der durch die Tür getreten war und mit
der Krankenschwester an ihrem Schreibtisch sprach. Sie deutete auf uns, und er
wollte zu uns herüberkommen, aber Anne-Marie stand auf und eilte auf ihn zu.
Sie sprachen kurz miteinander, dann wandte sie sich zu Greg und mir; ihr
Gesicht war noch fahler geworden.
    »Die Operation ist vorbei«, sagte sie.
»Ich darf ihn jetzt sehen.«
    Ich fragte: »Wird er...«
    »Das wissen sie noch nicht. Es kann
noch Stunden dauern. Warum geht ihr beide nicht heim und ruht euch ein wenig
aus.«
    »Nein, wir...«
    »Bitte, Shar. Wenn ich ihn gesehen
habe, möchte ich sowieso eine Weile allein sein.«
    Ich nickte; ich fühlte mich

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