Tote Stimmen
selben Zeit da wie Choc.«
»Choc war oft da.« Sie runzelte die Stirn. »Wie war ich drauf?«
Ich hielt inne und dachte über die Frage nach, aber im Inneren dachte ich:
Wenn es nichts wird mit ihr, bin ja immer noch ich da.
Teilweise hatte ich das ernst genommen und fühlte mich jetzt ganz dumm und am Boden zerstört.
»Dir ging’s gut«, sagte ich. »Ich war traurig, dass du da drin warst, aber es war gut zu sehen, dass du in Sicherheit warst.«
Ich lächelte ihr zu. Von allem anderen abgesehen, stimmte das ja.
»Es ist immer schön, dich zu sehen.«
Sie lächelte zurück. »Dich auch.«
Danach redeten wir bei zwei Drinks über nichts Besonderes. In der Zeit, als wir ein Paar waren, war eines der Probleme gewesen, dass wir uns nicht viel zu sagen hatten, aber andererseits noch nicht so lange zusammenlebten, dass dieses Schweigen uns nicht störte. In den Jahren, die seit damals vergangen waren, waren wir viel lockerer geworden, und selbst wenn wir schwiegen, war das gewöhnlich in Ordnung. Doch heute Abend fühlte es sich anders an. Ich tat mein Bestes, kam mir aber langsam vor, als trüge ich eine Maske mit einem falschen, aufgemalten Lächeln und sie könnte es jeden Moment bemerken. Im Lauf des Abends suchte ich nach Anzeichen, dass dies mehr für sie war als ein gemütliches Treffen mit einem Freund, mit dem sie einen trinken ging. Aber es gab keine. Ich war ein Idiot gewesen, und die Ereignisse des vergangenen Monats, alles von Emmas Auszug bis zu dem, was mit Eddie passiert war, schien plötzlich gegenwärtig, unverfälscht und unerträglich heftig.
Gegen neun gähnte sie.
»Zeit, nach Hause zu gehen?«, sagte ich.
»Ja. Tut mir leid.«
»Mach dir nichts draus. Ich komm ein Stück mit.«
Arm in Arm gingen wir durch die Stadtmitte; als wir an ihrer Haltestelle ankamen, stand der Bus schon da, und die Wartenden stiegen langsam ein. Sie drehte sich zu mir um und legte stürmisch und zugleich zärtlich die Arme um mich.
»Ach, es war so schön, dich zu sehen. Danke für alles.«
Ich klopfte ihr sanft auf den Rücken. »Dich auch. Lauf, sonst verpasst du deinen Bus.«
»Okay. Meld dich wieder mal.«
Sie stieg ein, die Türen schlossen sich zischend, und meine Magengrube schien plötzlich zweimal so tief zu werden, denn mir ging gerade auf, dass ich mich nicht bei ihr melden würde. Dabei verspürte ich tiefe Traurigkeit, aber ich wusste, es war unvermeidlich. Es musste so sein. Ich hatte diesen Abend so mit Erwartungen überfrachtet, dass alles, was vorher glatt und einfach gewesen war, nun in einem anderen Licht kantig und komplex erschien.
Tori winkte mir vom Mittelgang des anfahrenden Busses zu, ich winkte zurück und dachte dabei lächerlicherweise:
Ich liebe dich noch. Ich glaube, ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.
Ich kann es auf Dauer einfach nicht ertragen, dich nur als Freundin um mich zu haben.
Und einen Augenblick später war sie schon verschwunden.
8
Dienstag, 23. August
A ls Mary mit zwei schweren Einkaufstüten, die so vollgestopft waren, dass das Plastik ihr in die Handflächen schnitt, den Gehweg entlangging, erinnerte sie sich an die Nacht, in der ihre Kindheit zu Ende gegangen war.
Sie sah zwei zitternde Kinder vor sich, die sich durch die Nacht kämpften.
Das Mädchen war fünfzehn, ging barfuß im Schnee und trug nur ein T-Shirt. Mit einer Hand presste sie das Hemdchen fest an sich, um sich damit etwas Wärme zu erhalten. Mit der anderen hielt sie die Hand ihres Bruders fest und zog ihn hinter sich her. Er war völlig starr und ging still mit, wohin sie ihn auch führte. Anscheinend merkte er nichts von den Tränen, die ihr übers Gesicht rannen, und der aufgerissenen Haut an ihren Handgelenken.
Alle Häuser um sie herum waren dunkel. Das Mädchen hatte keine Ahnung, wohin sie gehen sollten. Sie wusste nur, dass niemand ihnen helfen würde und dass sie nicht zurückkonnten. Und doch musste sie irgendwie für den kleinen Jungen sorgen, den sie hinter sich herzog.
Sie hatte panische Angst.
Jetzt, zwölf Jahre später, bog sie um eine Straßenecke und fühlte etwas Ähnliches. In den letzten zwei Wochen war die Erinnerung sehr gegenwärtig gewesen. Seit jenem Sonntag und ihrem Anruf bei der Polizei hatte sie das Gefühl, dass ihr ganzes Leben auf Messers Schneide stand und jeden Moment in die eine oder andere Richtung kippen konnte. Sie schwankte zwischen Panik und Hoffnung hin und her und war sich zuinnerst bewusst, dass beide Emotionen gleich gefährlich
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