Tote Stimmen
waren. Sie durfte nicht durchdrehen, denn dann würde sie erstarren, wo sie doch weiter vorankommen musste. Und sie durfte nicht hoffen, weil ihr niemand helfen würde …
Und da sah Mary ihn, er stand vor ihrem Haus, dort vorn, und sie spürte, wie sich das Gleichgewicht verlagerte. Sie erkannte ihn. Es war der Polizist von der Pressekonferenz, den sie damals im Fernsehen gesehen hatte, und er blickte sie direkt an.
Hoffnung blühte unter ihren Händen auf, obwohl sie versuchte, sie zu unterdrücken. Blütenblätter wirbelten durch ihre Finger herauf, und sie versuchte nicht mehr, das Gefühl zurückzuhalten.
Sie haben ihn gefunden.
Ihr Herz hätte am liebsten getanzt.
Sie haben auf dich gehört.
Als sie sich dem Haus näherte, wurde Mary klar, dass die Polizei auch sie gefunden hatte, und das war nicht so gut. Sie ärgerte sich, dass sie sich nicht genügend angestrengt hatte und zuerst entdeckt worden war. Ihr ganzes Leben lang hatte sie ängstlich über die Schulter zurückgeblickt, da hätte sie doch besser auf so etwas gefasst sein müssen. In der Vergangenheit war sie immer so vorsichtig gewesen, selbst wenn es gar nicht nötig war. Man war peinlich genau, wenn man es eigentlich nicht sein musste, damit man vorbereitet war, wenn es tatsächlich so weit war. Und doch schien all dieses Üben jetzt, wo es mehr denn je darauf ankam, sich nicht auszuzahlen. Sie konnte es sich nicht leisten, so unachtsam zu sein.
Aber was wäre, wenn jemand anders schuld war?
Der Polizist trat zur Seite. »Mary Carroll?«
»Ja.«
Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre sie tief bestürzt gewesen, ihren Namen so laut ausgesprochen zu hören. Sie hätte ihn vielleicht einfach abgeleugnet, selbst einem Polizisten gegenüber. Aber heute nickte sie und setzte dann dankbar die Einkaufstüten auf dem Asphalt ab, wo sie halb in sich zusammensanken wie Heißluftballons bei der Landung.
Der Polizist lächelte.
»Ich dachte doch, ich erkenne Sie, von dem Bild in Ihrer Akte. Ich bin Detective Sam Currie. Ich wollte mit Ihnen über den Anruf von vor zwei Wochen sprechen.«
Er hat auch eine freundliche Stimme
.
»Ach, ja?«
»Nur kurz, eigentlich. Wir sind der Information nachgegangen, die Sie uns gaben, und ich wollte Sie wegen Ihres Verdachts beruhigen.«
Verdacht
, dachte sie.
Beruhigen
.
Plötzlich fühlte sich alles in ihrem Inneren tot an.
Es war besser, völlig panisch zu sein, als dies.
»Kommen Sie doch rein«, sagte sie.
Fünf Minuten später brachte Mary zwei Tassen Kaffee ins vordere Zimmer. Sie hatte gewartet, bis das Wasser kochte, dabei die Ellbogen auf die Arbeitsfläche gestützt und die Hände vors Gesicht gelegt, während ihr Haar im Zucker auf dem Boden ihres Bechers rührte. Sie holte tief Atem und versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Wie hatte sie nur so dumm sein können?
Du musst ihn überzeugen.
Der Gedanke setzte sich fest, aber zugleich wusste sie schon, dass auch dieser Ausbruch von Hoffnung dazu verurteilt war, sie noch tiefer niederzuschmettern. Doch was konnte sie sonst tun?
Der Polizist – Currie – saß ganz vorn auf der Sesselkante und blätterte in einem Buch. Als sie hereinkam, hielt er es hoch.
»Der fahrende Ritter«, sagte er. »Ich erinnere mich daran. Ich hab meinem Sohn oft daraus vorgelesen, als er klein war.«
Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie es hatte offen herumliegen lassen. Es war nur ein Kinderbuch, aber sie mochte es nicht, wenn andere einen so intimen Einblick in ihre Kindheit bekamen. Besonders unter solchen Umständen.
»Es war mein Lieblingsbuch, als ich noch klein war«, sagte sie.
Er legte es hin, nahm den Kaffee und hielt den Becher mit beiden Händen umklammert, als sei er tagelang draußen in der Kälte gewesen.
Mary setzte sich ans andere Ende der Couch und zog die Beine unter sich.
»Woher wussten Sie, wo ich wohne?«
»Von Ihrem Bruder«, sagte Currie.
Das schreckte sie einen Moment auf. Statt der Erinnerung an sie beide im Schnee kam ihr jetzt der Alptraum in den Sinn, den sie gehabt hatte. Ihr Bruder, der kleine, unschuldige Junge, den sie so verzweifelt vor der Brutalität ihres Vaters zu schützen versucht hatte.
»John«, sagte sie. »Ich habe ihn schon länger nicht gesehen. Wie geht’s ihm?«
»Er klang, als ginge es ihm gut.«
»Sie haben ihn nicht getroffen?«
Currie schüttelte den Kopf. »Er lebt jetzt in Rawnsmouth. Mit unseren Mitteln können wir uns keine Reisen von fünfhundert Meilen erlauben.«
»Klar.«
»Aber
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