Tote Stimmen
für die Mittagspause etwas zu essen holen gegangen und hatte mich mit der Zeitung allein gelassen, die ich auf dem Weg gekauft hatte. Das Foto auf der ersten Seite war das gleiche, das Julie für ihr Profil auf der Kontaktplattform genommen hatte. Ich glaube, es war ursprünglich für das Schwarze Brett im Institut aufgenommen worden: eine gestellte Aufnahme vom Fotografen, auf der sie fast unschuldig aussah. Aber der leichte Glanz ihrer Augen wies auf die verspielte Sinnlichkeit hin, die ich mit ihr verband.
Als er zurückgekommen war, hatte er das Sandwich mitten auf die Zeitung fallen lassen und mir befohlen, ich solle aufhören zu lesen. Jedes Mal, wenn ich mich dagegen wehrte, sagte er es wieder. Schließlich nahm er sie mir einfach weg.
Hör auf, die ganze Zeit dieser Sache nachzuhängen.
»Wie geht’s dir inzwischen?«, fragte er jetzt.
»Mit dem Haus? Es ist tatsächlich nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte.«
»Nein, ich meine, mit Julie.«
»Es geht schon, denke ich.«
Zum Teil stimmte das. An dem Abend nach der Vernehmung hatte ich eigentlich nur auf der Couch gesessen und mit leerem Blick auf den Fernseher gestiert, während ich immer wieder meine Kunststücke mit einer Münze wiederholte. Ich konnte nicht anders als an sie denken.
Ich erinnerte mich, wie klein und durchtrainiert sie war. Die Linien der Muskeln am Rücken und ihre Schenkel. Julie hatte kaum fünfzig Kilo gewogen, aber sie war überraschend stark. Obwohl ich zweimal so schwer war, konnte sie mich oft überwältigen. Bei unserem dritten Treffen lieferten wir uns einen spielerischen Kampf und lagen schließlich erschöpft Gesicht an Gesicht auf dem Boden ihres Wohnzimmers. Sie lag auf mir, drückte meine Arme zu Boden, und unsere Gesichter waren einander verlockend nah. Wir blieben auch mehr oder weniger fast den ganzen Abend dort.
Warum hast du den Kontakt mit ihr nicht gehalten?
Die Münze war weggerutscht und fiel auf den Teppich, lautlos wie ein Wimpernschlag.
Ich hatte sie das Jahr über kaum gesehen oder viel an sie gedacht, aber ich fand es trotzdem schwierig zu glauben, dass sie tot war und dass es diese starke, dynamische Frau nicht mehr gab, die in meiner Erinnerung auf mich hinablächelte.
Als die Polizisten an meine Tür klopften, hatte ich Angst gehabt, sie könnten wegen Eddie gekommen sein. Jetzt wünschte ich mir, es wäre so gewesen, wenn es nur bedeutet hätte, dass Julie noch lebte, selbst wenn ich sie nie wieder sah oder nie mehr an sie dachte.
»Du kannst mich nicht anlügen«, sagte Rob. »Ich kenne dich zu gut. Ich sehe dir an, dass du Schuldgefühle hast.«
»Ich habe absolut keine Schuldgefühle.«
»Doch, hast du. Dein Gesicht zuckt, wenn du lügst.«
»Sei nicht so verdammt bescheuert.«
»Jetzt hat’s gerade wieder gezuckt.«
Ich runzelte die Stirn. »Vielleicht ein bisschen.«
»Und warum?«
»Weil das mit ihr passiert ist. Mein Gott, Rob. Jemand hat sie da ganz allein liegen lassen. Niemand war da und hat nachgesehen, wie es ihr ging.«
»Ja, das beunruhigt mich auch. Ich hätte etwas tun sollen.«
»Du kanntest sie nicht einmal.«
»Und du auch nicht. Das ist es doch gerade, Dave. Sie hat dich betrogen, und statt sie zu hassen, wie jeder normale Mann es tun würde, fühlst du dich tatsächlich
verantwortlich,
weil ihr ein Jahr später etwas Schlimmes passiert ist.«
Ich rieb mir mit der Handfläche die Stirn. »Du bist genauso schlimm wie dieser verdammte Bulle.«
Rob schwieg einen Moment.
Dann: »Hast du es Sarah erzählt?«
»Nein.«
Er schien fast erleichtert. »Das ist wahrscheinlich am besten. Wie gesagt, sie scheint nett zu sein.«
»Sie
ist
nett.«
»Gut. Lass also nicht zu, dass du dir das durch deine Eigenheiten verdirbst.«
»Danke.«
»Im Ernst, ich meine es wirklich so. Du bist mein Freund, und ich werde nicht dasitzen und zusehen, wie du dir dein Leben versaust. Ich weiß, wie du manchmal sein kannst.«
Ich wollte meinem Ärger über ihn eigentlich Luft machen, aber er hatte einen so ernsthaften Gesichtsausdruck, dass ich es nicht über mich brachte. Und im Grunde wusste ich, dass er recht hatte. Etwas Schreckliches war geschehen, aber es hatte nichts mit mir zu tun. Es war nicht meine Schuld. Es gab nichts, was ich hätte tun können oder tun sollen, um es zu verhindern.
»Ich hab’s bald geschafft«, sagte ich. »Ehrlich.«
Er starrte mich weiter an, dann nickte er, hob das Buch von Thom Stanley auf und hielt es mir hin. Ich nahm es und bemerkte, dass
Weitere Kostenlose Bücher