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Tote Stimmen

Tote Stimmen

Titel: Tote Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Mosby
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jene Nacht im Schnee vor zwölf Jahren. Sie hatte ihren letzten Mut zusammenkratzen müssen, um aus dem Haus zu entkommen. Damals hatte ihr Vater angefangen, sie lockerer anzubinden als vorher, und forderte sie damit heraus, sich zu befreien. Er war sicher, dass ihre Angst sie zwingen würde zu bleiben, und fast hatte sie das auch getan. Als sie in der Kälte vor sich hin stolperte, war Mary sicher gewesen, dass in ihr nichts mehr war als Leere. Sie hatte aufgebraucht, was sie je an Kraft und Entschlossenheit besessen hatte, alles hatte sie für diese eine letzte verzweifelte Anstrengung zusammengenommen.
    War ihre Kraft je zurückgekehrt?
    Mary trank den Rest der Suppe aus und legte dabei den Kopf nach hinten, damit die dicke Flüssigkeit aus der Thermoskanne herausfließen konnte. Dabei spürte sie, dass es ihr im Nacken anfing zu kribbeln.
    Sie senkte den Blick. Ganz langsam.
    Und dann erstarrte sie.
    Ihr Vater sah sie direkt an. Er stand immer noch vor der Haustür, kehrte aber jetzt der verschmierten Schrift den Rücken zu. Er hielt gegen die Sonne eine Hand über die Augen. Ein neugieriger Ausdruck lag auf seinem Gesicht.
    Ihre Hand fing an zu zittern.
    Es gab keinen Grund dafür, dass er gerade ihr Auto auswählen sollte …
    Aber sie spürte, wie sein Blick über ihr Gesicht kroch.
    Du könntest wegfahren, bevor er in die Nähe käme.
    Und doch konnte sie sich nicht von der Stelle rühren. Der Teil ihres Gehirns, der ihrem Körper befahl zu funktionieren, war zur Seite geschoben, griff nicht mehr richtig. Ihr Gehirn konnte sich nicht einmal daran erinnern, was Bewegung war, so wie einem ein vergessenes Wort desto weniger einfällt, je hartnäckiger man sich daran zu erinnern versucht.
    Während sie aus der relativ kurzen Entfernung zu ihm hinstarrte, nahm ihr Vater die Hand von den Augen und winkte kurz. Sie rührte sich immer noch nicht. Sie sah ihn lächeln, dann fasste er nach unten, was ihm offenbar nicht ganz leicht fiel, und klopfte auf seinen Unterschenkel, als sei dieser ein braver Hund, der gerade ein Kunststück vorgeführt hatte.
    Mach, dass du hier wegkommst.
    Er trat auf den Weg vorm Haus.
    Und sie kam wieder zu sich und merkte jetzt, dass ihr Herz heftig gegen ihre Brust hämmerte.
Hau ab
. Ihre Hand fand den Schalthebel, bewegte ihn mit einem Knirschen, und dann stieß sie in einem Bogen rückwärts. Die Reifen quietschten. Sie sah nicht einmal in den Rückspiegel, als sie wegfuhr.
    Sie brauchte ihn nicht zu sehen, um zu wissen, dass er sie beobachtete.
     
    Wenn sie im Sommer die Fenster offen hatte, kamen Wespen ins Haus.
    Mary hasste sie. Immer summten sie ziellos am Fenster herum, flogen brummend Schleifen im Zimmer und suchten nach etwas, das sie stechen konnten. Dann rollte sie eine Zeitschrift zusammen, wartete, bis eine landete, und schlug so fest drauf, wie sie konnte.
    Eines Tages war eine der Wespen nach so einer Zeitungsattacke noch am Leben. Und statt noch einmal draufzuhauen, hatte Mary auf sie hinuntergeblickt und ihr entsetzt, aber fasziniert beim Sterben zugesehen.
    Die Wespe hatte auf der Arbeitsfläche in der Küche herumgebrummt und gesurrt, ihr Kopf und der vordere Teil sahen aus wie zerquetschte Maiskörner, und der Rest des Körpers verkrampfte sich. Die sterbende Wespe krümmte sich immer wieder zusammen, und Mary brauchte ein Weilchen, um herauszufinden, was sie tat. Mehrmals stach sie in die Luft. Selbst als der Rest sich nicht mehr bewegte, stach das hintere Ende immer noch in den leeren Raum. Dieser Teil des Körpers erlahmte zuletzt.
    Mary fuhr jetzt auf die Hauptstraße. Sie war zu Tode erschrocken, versuchte aber, das Zittern zu beherrschen.
    Das war es, was Detective Sam Currie nicht verstand, was
niemand
zu verstehen schien. Er hatte gesagt, ihr Vater sei ein gebrochener Mann, und vielleicht hatte er recht. Aber er verstand nicht, dass Männer wie Frank Carroll sich nicht wie normale Menschen brechen lassen. Sie brechen so wie die Wespen.

13
    Donnerstag, 1. September
    H ätte ich noch Zweifel gehabt, warum Rob mir die Leviten gelesen hatte, wären sie bis Viertel nach sieben am nächsten Abend, als ich mit Sarah in der ziemlich luxuriösen Bar im Varieté-Theater saß, restlos beseitigt gewesen.
    Es gab dort jede Menge Holzverkleidungen, karmesinrote plissierte Vorhänge und an den Wänden befestigte Laternen. Dort zu sitzen fühlte sich ein bisschen an, als wäre man im Magen eines Meeresungeheuers, das gerade eine Piratenkajüte verschluckt hatte. Als wir

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