Tote Stimmen
modisches Hemd, das lose über seine schicke Hose hing. Wann immer ich ihn sah, dachte ich, eine billige Late-Night-Show irgendwo könnte doch bestimmt noch einen Moderator brauchen. Eine dieser Call-in-Shows, die einen dazu bringen, immer wieder anzurufen, worauf man nur eine Auskunft vom Band bekommt, tut uns leid, viel Glück beim nächsten Versuch.
»Guten Abend, meine Damen und Herren.«
Er verbeugte sich leicht in verschiedene Richtungen. Von der Lautsprecheranlage des Theaters verstärkt, klang seine Stimme, als spreche sie direkt in mein Ohr. Prima für meine Tonaufnahme.
»Danke, vielen Dank, dass Sie alle gekommen sind, und willkommen. Ich hoffe, es wird ein produktiver und lohnenswerter Abend für Sie alle. Ich sage immer, ich kann keine Ergebnisse versprechen, aber ich kann auf jeden Fall versprechen, dass ich mein Bestes geben werde.«
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und schluckte.
»Wie Sie wissen, kann ich nur mit den Geistern arbeiten, die sich entschließen, zu mir zu kommen. Hoffentlich können wir alle dadurch, dass wir die rechte Atmosphäre schaffen, dazu beitragen, dass dies geschieht. Ich will positive Schwingungen fühlen. Ich will Liebe und Offenheit spüren. Das Ziel ist, einen warmen und sicheren Ort zu schaffen, an dem sich die Geister gerne einfinden.« Er runzelte die Stirn. »Leuchtet Ihnen das ein?«
Ein zustimmendes Murmeln war zu hören, als wäre es tatsächlich so.
»Gut.«
Stanley ging zum Tisch, goss sich ein Glas Wasser ein und nahm einen Schluck. Dann kehrte er wieder zum Mikrofon zurück, faltete die Hände und wippte auf den Fersen leicht nach hinten.
Okay, jetzt führen wir die erste Nummer des Abends vor
.
Er wandte den Blick nach links und starrte mit gerunzelter Stirn ins Leere. Schweigen breitete sich für ein paar Sekunden im Raum aus.
Dann unterbrach er die Stille und sagte schnell:
»Sehr gut. Auf Anhieb habe ich hier einen älteren Herrn. Er ist ziemlich groß und lächelt viel. Ein freundlicher Mann.« Er lächelte dem Geist zu. »Und ich mag ihn. Er sagt, er heiße William, Will oder möglicherweise Bill. Sagt das irgendjemandem etwas?«
Ich vermutete, dass die Chancen recht gut standen, und sofort zeigte ein Paar, das ein paar Reihen weiter unten saß, Interesse für William. Ich konnte nur ihre Hinterköpfe sehen, aber es war leicht, vieles von dem zu erraten, was Stanley sagen würde und warum.
William würde sich wahrscheinlich in erster Linie an die Frau halten, dachte ich, weil sie zuerst die Hand gehoben hatte. Und aus dem Alter des Paares ließ sich schließen, dass der Geist wahrscheinlich ihr Vater wäre. Ich selbst hätte auch auf »Vaterfigur« gesetzt, weil das eine relativ große Bandbreite abdeckte. Irgendwann würde der Geist auf seine Brust zeigen und damit die Art und Weise andeuten, wie er gestorben war. Es war eine sichere Wette, die Leute sterben nicht an einem gebrochenen Bein, und er würde wahrscheinlich auch sagen, dass er eine Weile krank gewesen sei. Selbst wenn sich herausstellte, dass er plötzlich an einer Kopfverletzung gestorben war, war es immer noch möglich, dass die Ärzte etwas übersehen hatten. Die Sache ist doch, dass man mit einem Geist nicht herumstreiten kann, oder?
Stanley brachte all dies und noch mehr, und im Vergleich zu mir hatte er den Vorteil, dass er die Reaktionen der Frau sehen und hören konnte. Nach jeder Bestätigung oder einem leicht verwirrten Blick konstruierte er dementsprechend seine Kommentare und übermittelte banale und allgemeine Auskünfte an die Frau zurück, die sie ihm vorher selbst gegeben hatte.
Wie lautete deine alte Telefonnummer, Will?,
hätte ich gerne gefragt.
Deine Sozialversicherungsnummer?
Aber nichts davon war wichtig, weil der Frau das gesagt wurde, was sie hören wollte. Ihr Vater hatte Frieden gefunden. Er war noch bei ihnen. Jeden Tag lächelte er und war stolz auf sie. Er konnte sie hören, wenn sie mit ihm sprachen.
Harmlose Lügen. Ich merkte, dass ich bei jedem Wort wütender wurde.
Ließ man meine Abneigung einmal beiseite, musste ich zugeben, dass Stanley geschickt und professionell vorging. Als Illusionist war ich beeindruckt. Ich zählte drei Volltreffer im Vergleich zu über zwanzig Fehlschüssen, und trotzdem würde Williams Tochter wahrscheinlich später erstaunt sein, wie genau er alles erraten hatte. Und es war alles seiner Professionalität geschuldet; Thom Stanley war erfolgreich, weil er es schaffte, die Tatsache, dass er viele Fehler
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