Tote Stimmen
dass es keine Valerie
gab
, dass Valeries Handy das in der Hand des Mannes dreißig Meter hinter mir war und dass er mich nur testete. Ich hatte mich vergewissern müssen.
»Okay.«
Schwitzend klickte ich schnell wieder weiter und schickte die Nachricht an mich selbst.
Das Gesendet-Signal ertönte.
»Haben Sie das gehört?«
»Ja. Ich hab’s gehört. Schalt das Handy ab.«
»Was jetzt?«
»Steig aus«, sagte er, »und geh die Straße runter. Nummer sechsundzwanzig ist ungefähr fünf Häuser weiter von da, wo du jetzt stehst. Die Haustür ist offen. Geh rein.«
»Was?«
»Tu einfach, was ich dir sage, verdammt noch mal. Schau dich nicht um und tu das Handy weg, damit man es nicht sieht.«
Er legte auf.
Ich stieg aus und stand sofort im Regen, der mich weiter verfolgte, als ich die Straße hinunter an einem Haus nach dem anderen vorbeiging.
Jetzt hatte ich Angst. Warum wollte er, dass ich in einem Gebäude war? Würde er mir nachkommen? Aber ich wollte mich seinen Anordnungen nicht widersetzen, indem ich mich umdrehte. Ich war froh, dass ich das Messer bei mir hatte, und hoffte nur, dass ich Gelegenheit haben würde, es zu benutzen.
Was machst du da bloß?
Nummer sechsundzwanzig.
Es war eine kleine, triste Doppelhaushälfte, deren betonierter Vorgarten durch ein Eisentor von der Straße abgetrennt war. Das Tor quietschte laut und kratzte beim Öffnen über den Boden, und als ich es losließ, sackte es klappernd hinunter. An der Haustür sah ich nach oben. Kein Licht. Kein Geräusch von drinnen. Das Haus war leer und still, genau wie es Toris Haus gewesen war.
Tief atmen.
Es war nicht abgeschlossen, ich drehte den Griff und trat in einen schmalen Flur. Der Wind fegte hinter mir herein und ließ ein neben der Tür hängendes Windspiel klirren. Eine Treppe führte rechts nach oben, geradeaus ging es zu einer dunklen, vom Mondlicht erhellten Küche. Vom Flur gingen zwei Türen links ab, beide waren zu.
Ich schloss die Haustür, er hatte mir nicht gesagt, ich solle das nicht tun, nahm mit einer Hand das Messer heraus, mit der anderen das Handy und wartete darauf, dass er anrief. Sekunden verstrichen, und nichts passierte. Das Handy blieb so dunkel und stumm wie das Haus um mich herum.
Dann hörte ich es und schaute die Treppe hoch.
Ein gedämpfter Klagelaut von oben.
Tori
. Ich zögerte keinen Moment.
Oben war das Summen von Fliegen in der Luft lauter, und der Geruch kam mir entgegen. Es war, als stiege man in eine schwarze Wolke. Ein ekelhafter Dunstschleier in der Luft, auf den ich unwillkürlich mit Abscheu reagierte. Es erinnerte mich an damals, als ich meinen Vater zum letzten Mal im Hospiz besucht hatte, als seine Haut gelb war und er ausgesehen hatte, als schwitze er den Tod aus. Der gleiche widerlich-süße Krankheitsgeruch, von dem hier die Luft geschwängert war.
Ich hielt mir den Ärmel vors Gesicht und stieß die Schlafzimmertür auf.
Die Vorhänge waren zurückgezogen und ließen einen Lichtstreifen hereinfallen, der wie eine Decke über dem Mädchen auf dem Bett lag. Fliegen surrten wie kleine schwarze Blitze hindurch.
Oh Gott.
Ich wäre fast hingefallen.
Es sah nicht einmal wie ein richtiger Mensch aus. Sie war zu reglos, eine Sache statt eines menschlichen Wesens. Eine Wachspuppe, die nackt und mit ausgestreckten Gliedern auf dem Bett lag. Ich bemerkte die dicken Lederbänder, mit denen ihre Handgelenke unter den schrecklich gespreizten Fingern an die Bettpfosten gefesselt waren. Ein Strick war um ihren Kopf gebunden, der ihr in den Mund schnitt.
Eines ihrer Augen war geschlossen. Das andere stand einen kleinen Spalt offen, und ein weißer Halbkreis war zu sehen.
Alles vollkommen reglos.
Ganz benommen machte ich einen Schritt auf das Bett zu, um das Gesicht deutlicher zu sehen und mich zu vergewissern … und als ich sicher war, stolperte ich rückwärts, das Herz schnürte sich mir zusammen. Emma.
Das Handy klingelte.
Meine Hand zitterte, als ich es ans Ohr hob. Ein paar Sekunden hörte ich nichts außer Fliegen auf ihren sirrenden schrägen Bahnen in der Luft. Als seine Stimme endlich zu hören war, war sie kälter und gefühlloser als alles, was ich je gehört hatte.
»Du hast sie sterben lassen.«
Es stimmte ja nicht, aber die Brutalität seiner Worte durchdrang alle rationalen Argumente, die ich mir vorsagen konnte. Emma, die hier die ganze Zeit vergessen gelegen hatte, ohne dass jemand sich um sie kümmerte. An die ich kaum jemals gedacht hatte, seit sie weggegangen
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