Tote Stimmen
Ecke in der Querstraße und ließ diesmal einen größeren Abstand zwischen uns.
Ich schaute zu beiden Seiten aus den Fenstern, hatte aber keine Ahnung, wo wir waren. Auf der linken Seite standen Wohnhäuser mit strengen grauen Fassaden. Auf der anderen Straßenseite lagen hinter spitzen Eisenzäunen abschüssige Teerflächen, die sich bis zu einstöckigen Lagerhäusern hin erstreckten. Eine Telefonzelle mit eingeschlagenen Scheiben stand direkt hinter einem Briefkasten auf dem durchnässten Grasstreifen.
»Warum diese Stelle hier?«
»Wirst du noch herausfinden.«
Ich blickte in den Spiegel und sah es. Eine Überwachungskamera an dem ersten Laternenpfahl, die zu mir hin zeigte. Kurz davor hatte er geparkt.
»Also, was passiert jetzt?«
»Jetzt machst du die Schachtel auf.«
»Okay.«
Ich war nervös, was ich wohl finden würde, aber ich zog an den Laschen, und sie ließ sich leicht öffnen. Auf den ersten Blick schien die Schachtel leer zu sein. Erst als ich sie schief hielt, raschelte etwas, und dann sah ich die Umrisse einiger Gegenstände. Mir wurde klar, worin der Inhalt bestand, und ich schob den Karton wieder auf den Beifahrersitz.
Kleider.
»Die Polizei macht eine Bestandsaufnahme«, sagte der Mann. »Jemand, der dem Opfer nahesteht, soll dann sagen, ob etwas fehlt.«
Ich versuchte, den Schrecken zu unterdrücken, den ich fühlte.
»Aber wer bemerkt schon ein Paar Jeans?«, sagte er. »Oder ein Oberteil? Besonders wenn es jemand ist, dem so wenig daran lag.«
»Warum haben Sie sie behalten?«
»Weil sie wertvoll für mich waren. Nimm das Telefon heraus.«
»Was?«
»Das Scheißhandy. Es liegt oben drauf.«
Ich griff hinein und fand es. Als ich es herausholte, streiften meine Finger etwas Weiches, und ich zuckte zurück.
Nur Kleider
. Aber sie waren befleckt von den Umständen, unter denen sie hierhergekommen waren. Er hatte sie genommen, während ein Mädchen ausgezehrt und tot neben ihm im Zimmer lag. Julie …
»Schalt es an.«
Es war ein altes Modell von Nokia. Man musste einen Fingernagel oben reinstecken, um es zu aktivieren. Ich drückte die Taste und wartete dann, während das Handy startete und ein Bild auf dem Display erschien.
»Geh zu ›gesendete Nachrichten‹. Es gibt nur eine. Öffne sie.«
Ich klickte weiter und wählte sie aus. Die Nachricht erschien.
Hi. Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Alles in Ordnung, hab nur zu tun. Hoffe, bei dir auch alles ok. Vielleicht holen wir’s bald mal nach. Tori
Oh Gott.
»Ist das ihr Handy?«
Er beachtete mich nicht. »Drück ›weiterleiten‹, dann geh zu ›Kontakte‹. Du wirst da ein Mädchen namens Valerie finden. Schick ihr die Nachricht.«
Ich hatte also recht gehabt. Der Mann versuchte mich in die Pfanne zu hauen. Aber man konnte nicht einfach Schuld von einer Person zu anderen verlagern. Die Polizei würde das merken. Er glaubte doch sicher nicht, dass ihm so etwas gelingen würde.
Vielleicht doch, wenn er verrückt ist.
»Aber …«
»Tu’s jetzt. Halte die Handys nahe nebeneinander, damit ich den Ton hören kann.«
Ich scrollte nach unten, bis ich Valeries Namen fand, und sah im Spiegel wieder zur Überwachungskamera. Deshalb war ich hier, damit ich mich selbst belastete und dies auf Film aufgezeichnet wurde. Die Polizei würde lokalisieren, von wo die Nachricht geschickt wurde, dann die Aufnahmen der Überwachungskamera überprüfen und meinen Wagen sehen.
Ich scrollte Toris Kontakte-Liste hoch und markierte stattdessen meinen eigenen Namen.
Das würde funktionieren. Der Mann würde den Ton hören und glauben, ich hätte die Nachricht geschickt. Und wenn die Polizei mich als Verdächtigen betrachtete und mein Handy ortete, würde dies als deutlicher Widerspruch erscheinen.
Mein Daumen berührte schon die Taste ›Auswählen‹.
Dann hielt ich inne, denn etwas Schreckliches fiel mir ein.
Wie vorsichtig wird er wohl sein?
»Was dauert so verdammt lange?«
»Ich bin dieses Handy nicht gewohnt«, sagte ich. »Tut mir leid.«
Ich drückte ›Abbrechen‹, dann das Menü und dann ›Kontakte‹. Scrollte hinunter,
Valerie, Valerie
, Valerie …
›Auswählen‹.
»Wenn du die SMS nicht schickst«, sagte der Mann, »lege ich auf und fahre weg. In den nächsten fünf Sekunden bringst du sie dadurch um.«
Das Display zeigte an, dass ich Valeries Nummer anwählte. Ich konnte das Klingeln nur gedämpft hören und brach den Anruf sofort ab. Einen Moment hatte ich den schrecklichen Verdacht gehabt,
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