Tote Stimmen
Ahnung, wer das Geld geschickt hatte oder wofür es sein sollte, und sah auch keinen naheliegenden Weg, es herauszubekommen. Da seine Adresse nicht öffentlich bekannt war, nahm er an, dass es etwas von seiner Agentin sein musste, eine überfällige Zahlung, die sie vergessen hatte; aber als er sie anrief, wusste sie nichts davon.
»Und dann bekam ich einen Anruf.«
Auf seiner Festnetznummer, und der Anrufer lehnte es ab, seinen Namen anzugeben. Er hatte Stanley gesagt, er sei ein Geschäftsmann, der ihm einen Vorschlag unterbreiten wolle, sonst nichts, und dass ihm noch einmal fünftausend Pfund zukommen würden, wenn er ihm einen kleinen Gefallen tue. Aber er dürfe keine Fragen dazu stellen.
»Er erzählte mir, seine Tochter würde an jenem Abend im Publikum sein. Dass sie fest an das glaube, was ich tue«, sagte Stanley. Er lachte, aber eher bitter als humorvoll. »Dadurch, wie er das sagte, wurde mir klar, dass er selbst durchaus nicht daran glaubte. Aber andererseits hörte ich ihm ja zu, nicht wahr? Ich nehme also an, es war gerechtfertigt.«
Ich sagte nichts dazu, obwohl der logische Widerspruch in dem, was er sagte, erstaunlich war.
»Was sollten Sie tun?«
»Er sagte, Tori sei der Name seiner Frau. Seine Tochter hätte sich ihr im vergangenen Jahr entfremdet, und besonders seine Frau sei untröstlich. Er dachte, wenn man die Tochter ermutigte, sich wieder zu melden, sei dies vielleicht ein Weg, die beiden wieder zusammenzubringen. Er sagte, sie würde es glauben, und ihm falle nichts mehr anderes ein. Er sagte, er sei verzweifelt.«
»Ich wette, das hat Sie zu Tränen gerührt.«
»Ja, so war’s.«
»Aber das Geld rührte Sie noch mehr.«
Er ignorierte mich. »Es schien so leicht, jemandem damit zu helfen. Ich hatte eine kurze Nummer vorbereitet, für den Fall, dass seine Tochter die Hand hob, aber natürlich meldete sich niemand.«
»Und dann?«
»Das Geld sollte gestern kommen.«
»Aber es kam nicht.«
»Stimmt. Und dann war sie in den Nachrichten. Es ist ein so ungewöhnlicher Name, dass ich ihn gleich bemerkte.«
»Und Sie dachten, dass wir Sie hereingelegt hätten.«
»Ja, natürlich.«
Sein Aussehen bei meiner Ankunft und der offensichtliche Mangel an Schlaf waren jetzt eher verständlich. Stanley meinte, er sei beeinflusst worden, einen Namen zu nennen, der bereits öffentlich bekannt war. Hätte sich jemand im Publikum den Namen an jenem Abend gemerkt und die Verbindung hergestellt, hätte es geschmacklos gewirkt. Selbst jetzt bestand noch die Gefahr, dass jemand sich erinnern könnte. Er müsste entweder erklären, dass er Geld genommen hatte, damit er seinen Auftritt manipulierte, oder damit weitermachen und riskieren, dass seine Entlarvung dann noch schlimmer sein würde. Als ich geklingelt und »Material« erwähnt hatte, musste er geglaubt haben, ich sei gekommen, um ihn deswegen zur Rede zu stellen.
»Sie dachten nicht daran, mit der Polizei Kontakt aufzunehmen?«, sagte ich.
»Warum sollte ich das tun?«
Er sah mich mit einer Mischung aus Schrecken und Selbstmitleid an. Die Macht der Leugnung. Vielleicht erwartete er Mitgefühl für die grässliche Situation, in die er ohne eigene Schuld geraten war.
»Sie haben nicht überlegt, wer es sonst hätte sein können?«
»Nein.«
Aber er sagte das zu schnell, und ich wusste, dass es ihm zumindest durch den Kopf gegangen war. Es war ja auch kaum möglich,
nicht
daran zu denken. Selbst wenn er vielleicht nicht verstand,
warum
ihn jemand dazu gebracht hatte, den Namen zu sagen.
Er hatte nicht einfach Angst, als Betrüger entlarvt zu werden. Er war erschrocken, weil er wusste, dass er vielleicht zum ersten Mal im Leben den Abgrund der Finsternis berührt hatte.
»Haben Sie noch das Kuvert, in dem das Geld war?«
Er nickte. »Hier drin.«
Wir gingen ins Wohnzimmer zurück, und er nahm es vom Fensterbrett und reichte es mir.
Fingerabdrücke.
»Ich möchte es nicht berühren. Ich will es nur von vorn sehen.«
Er hielt mir die Vorderseite hin. Kleine ordentliche schwarze Buchstaben.
Die gleiche Handschrift.
»Was ist mit dem Anruf?«, sagte ich. »Haben Sie die Nummer des Anrufers?«
»Es war eine unterdrückte Nummer.«
»Na schön. Er kam also am Donnerstag, oder? Um wie viel Uhr?«
»Ich weiß nicht. Gegen elf, glaube ich.«
Nach seiner anfänglichen Zurückhaltung schien er mir jetzt bereitwillig alles sagen zu wollen. Merkwürdig. Als ob er mir durch das Weitergeben der Information auch die Verantwortung dafür
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