Toten-Welt (German Edition)
starrte in den nun leeren Spielraum, entdeckte sie nicht in ihrem Versteck und schien das Interesse zu verlieren.
Da aber geschah das eigentlich Ungeheuerliche: Schräg hinter ihm regte sich etwas, das ihn ablenkte, denn sonst hätte Rosalind es gar nicht bemerkt. Erst konnte sie es nicht fassen. Aber ihre totgeglaubte Chefin bewegte sich wieder. War alles gar nicht so schlimm gewesen? Hatte sie nicht aus zahlreichen Wunden geblutet? Wollte sie etwa nachsetzen und den Angreifer vom Fenster wegzerren?
Es war ganz anders. Mia Forster war nicht einfach nur schlimm verwundet, sondern derart entsetzlich zugerichtet, dass man es nicht überleben, dass man schon gar nicht aufstehen und damit herumlaufen konnte. Rosalind tat einen kleinen Schrei, als sie die vor zehn Minuten noch bildhübsche und immer lächelnde Frau nun wieder auf den Beinen sah. Ihr Gesicht war eine Fratze, und alles starrte vor Blut.
Der Kerl, der ihr das angetan hatte, schaute ihr desinteressiert dabei zu, wie sie versuchte, die Schiebetür von außen zu öffnen. Sie schlug gegen das Glas, als ihre schiebenden Bewegungen ergebnislos blieben, erst mit der flachen Hand, dann mit der Faust. In ihren Augen loderte Mordlust.
Für Rosalind war das nun zu viel. Sie hatte für einen Augenblick daran gedacht, die Polizei zu rufen. Jetzt, da der Mörder ihrer Chefin mit ihr gemeinsame Sache dabei machte, in den Kindergarten einzudringen, mit seinem Opfer vierhändig gegen die Scheibe schlug und hämmerte und endlich einen ersten Riss im Sicherheitsglas erzeugte, der sich ausbreitete und spinnennetzartig aufbrach, da ließ Rosalind das Handy stecken, rannte zum Schlafsaal, sperrte auf und befahl die Kinder heraus.
Einige hatten sich in den Betten verkrochen. Wie sollte sie allein über 20 verängstigte Kinder an die Hand nehmen?
Mit einem klirrenden Knall zerbarst die Panoramascheibe. Rosalind hörte es und tickte aus. Zwar war sie Heldin genug, nicht allein davonzurennen, aber doch derart in Panik, dass sie den größten Teil der Kleinen zurückließ und nur die zur Vordertür schob und zerrte, die sie greifen konnte.
Sie riss die Tür auf, rief noch einmal so autoritär sie konnte in den Saal zurück – vermutlich rief sie „Lauft nach Hause, rennt davon so schnell ihr könnt!“ – aber da lief sie schon selbst, denn die beiden Monster waren durch den Spielsaal getaumelt und im Flur angekommen. Die Todesangst nahm überhand, und Rosalind rannte, rannte.
Erst zwei Straßen weiter, irgendwo, wurde ihr klar, dass sie allein war. Niemand war ihr gefolgt, auch kein Kind. Sie war in Sicherheit. Aber was hatte sie nur getan?! Ihr eigenes Leben gerettet. Die Kinder im Stich gelassen.
Der Gnom hatte es geschafft, seine Fesseln durchzusäbeln und sich zu befreien. Dankbarkeit gegenüber seinem Bruder verspürte er nicht. Der Mistkerl hatte ihn zwar nicht umgebracht, aber abgehängt. Was sollte er nun allein – etwa weitermachen mit diesem Auftrag, Leute zu verwandeln? Nur deswegen war ihm das ja alles passiert!
Da er sich gut vorstellen konnte, wie er aussah, vermied er es, sich einen Spiegel zu suchen, und senkte den Blick, wann immer er an einer Fensterscheibe oder sonstigen Spiegelfläche vorbeikam.
Einsam wankte er durch eine ausgestorbene Stadt. Dass hier alles vor die Hunde gegangen war, konnte doch wohl nicht allein sein Werk sein, das seines Bruders und Onkels. Was hatte die Hexe noch angestellt, wen noch alles auf die Menschheit losgelassen?
Irritiert und orientierungslos blieb er stehen. Es dauerte jetzt so lange, bis er was auf die Reihe brachte. Auch vorher war er nicht der Hellste gewesen, aber jetzt war jeder Gedanke der reinste Kraftakt. Allein das Bild zu erkennen und einzusortieren, das seine Augen seinem nicht ganz toten aber auch nicht wirklich lebendigen Hirn meldeten, das ging so langsam.
Pixel für Pixel begriff er, dass er am Unteren Tor stand, dem letzten erhaltenen der einst drei Stadttore. Über ihm, in der Ferne, thronte auf dem Hausberg der Stadt die alte Burg. Dort war die Hexe. Keine zehn Pferde brachten ihn dahin.
Aber wie war er hierhergekommen? Dieses Weib, das ihm das Gesicht zerfressen hatte, die wohnte am Platz vor dem Tor und arbeitete im Rathaus. Aus dem Gebäude, in dem ihre Wohnung lag, war er gerade gekommen, es lag schräg hinter ihm. Das Rathaus war nicht weit. Das alles hatten sie zusammen herausgefunden. Sie pflegte, ihren Arbeitsplatz zu Fuß aufzusuchen und mittags in einem der kleinen Restaurants der
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