Toten-Welt (German Edition)
Innenstadt einzukehren.
Er horchte in sich hinein. Fleischhunger grollte in ihm. Und eine unendliche Wut. Er wollte Rache. Und da war noch was. Jetzt, da er innehielt und nach innen lauschte, hörte er etwas, das ihm die ganze Zeit schon unterschwellig auf die Nerven gegangen war. Er hatte es gehört, aber nicht hingehört. In ihm hallten und gellten die Stimmen derer wider, die wie er waren oder ähnlich ihm. Es gab inzwischen so viele. Die meisten konnten oder wollten nicht sprechen, aber ihre Signale übertrugen sich nun anders.
Wäre er etwas schlauer gewesen, hätte er das, was ihm da auffiel, als neuen Sinn begriffen und als Gewinn. So aber störte es ihn einfach nur. Er wusste nun, da er hinhören gelernt hatte, dass schräg über ihm zwei von seiner Sorte im Begriff waren, in eine Mietswohnung einzudringen und die Familie auszulöschen, die sich dort verschanzt hatte.
Ganz leise hörte er tatsächlich mit seinen alten Ohren die Schreie der Menschen, aber die Gierlaute seiner Artgenossen waren, obwohl nicht zu hören, viel eindringlicher. Er vernahm auch die Angstnote der Menschen und die Verwandlung ihrer Körper und Seelen. Das alles, obwohl es die Datenflut seines alten Lebens weit übertraf, verwirrte ihn nicht, da er es nun an sich heranließ, sondern war wie ein Orientierungsraster, das ihn seine neue Welt und ihre neuen Möglichkeiten nun erst richtig begreifen ließ.
Er versuchte, die Bomhan zu wittern. Mehr als eine ganz schwache Spur war nicht auszumachen. Die Richtung stimmte. Vielleicht war er zu weit weg. Aber nun hatte er ein Ziel. Sicher war sie im Rathaus. Beim Gedanken daran, ihr den Schädel einzuschlagen, empfand er etwas, das sich nach dem anfühlte, was in seinen alten Leben Glück gewesen war. Damals hatte er selten Gelegenheit gehabt, dieses Gefühl zu spüren, und daher war er mehr als auf alles andere nun darauf aus. Sein Hunger konnte warten. Erst mal war Rache dran.
Die Sensoren seines neuen Sinns in Richtung Rathaus ausgerichtet, schlappte er los, durchquerte die historisch unschätzbar wertvolle Doppeltoranlage der Altstadt und näherte sich, noch ohne das zu wissen, einer Welt, die seit 500 Jahren Geschichte war.
Der Hase begriff erst nicht recht, was er da sah. Dabei war es doch Normalität gewesen – bis vor ein paar Tagen.
Er stand an einer Straßengabelung auf halbem Weg zwischen Burg und Stadt, einem Ort, den man „Alte Wüstung“ nannte, und starrte über die Hügelkuppe ins Nachbartal.
Die Wirkung des Mittels ließ schon wieder nach. Er spürte das immer zuerst an seiner Lippennarbe, die dann anfing zu jucken. Schon zeigten sich die ersten Schatten seiner Armverstümmelungen. Sanft strich er darüber, spürte Unebenheiten auf der noch glatten Haut und fing angewidert an zu kratzen. Es gab niemanden mehr, vor dem er sich deswegen schämen müsste, aber darum allein ging es auch nicht. Es ging um ihn selbst, er wollte unentstellt sein. Für immer.
Nur noch vier Ampullen. Er überlegte nicht lang und träufelte sich eine davon ins Auge.
Die Wirkung setzte sofort ein. Seine Unterarmhaut glättete sich und war wieder narbenlos. Das Jucken an der Lippe verschwand. Und seine Augen überwanden die leichte Sehschwäche, unter der er ein Leben lang gelitten hatte, ohne es zu wissen. Gestochen scharf sah er in der Ferne unter sich uniformierte Soldaten antreten und ihren Tagesbefehl entgegen nehmen.
Zum Teufel, wie konnte das denn sein! Sämtliche Medien hatten den Weltuntergang verkündet und dann den Betrieb eingestellt. Nur deshalb hatte er die Stadt doch verlassen! Genau dorthin war er unterwegs gewesen, in die Kaserne „Altes Kloster“.
Nachdem er seinen Bruder in der Wohnung der Bomhan zurückgelassen hatte, war ein Moment inneren Zusammenbruchs gefolgt. Er war allein, auf sich gestellt, hatte keine Aufgabe mehr und nicht mal mehr den Wunsch nach Rache an seinem sadistischen Onkel.
Ein alter Kindertraum hatte ihn seelisch wieder aufgerichtet. Seine Zinnsoldaten waren ihm eingefallen bei einem Blick in ein verwüstetes Spielzeuggeschäft der Altstadt. Krieg spielen, das hatte er geliebt, bevor sein Onkel aus seiner brutal angehauchten Kinderwelt eine Realität echter Brutalität gemacht hatte.
Er war schon halb in dem Spielzeuggeschäft, um nachzuholen, was er als Kind versäumt hatte, da fiel ihm ein, dass er Kinderspielzeug nicht mehr nötig hatte. Die ganze Welt stand ihm offen. Er konnte mit echten Gewehren ballern und mit Panzern herumfahren, wenn ihm
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