Toten-Welt (German Edition)
Mund aufzumachen.“
„Gute Idee. Also, du Arschloch, Plastiktüte zwischen den Zähnen oder Holzspieß im Hals, was ist dir lieber?“
Erwartungsgemäß drückte Helfert sofort das Kinn zur Brust und biss noch fester zusammen.
„Du denkst wohl, du hast es immer noch mit zwei verängstigten Kindern zu tun, die sofort aufgeben?“, fragte der Gnom lauernd. „Aber wir sind nicht mehr dieselben.“
Während er sprach, schob er seine Pulloverärmel hoch und präsentierte von allen Seiten seine Unterarme. Helferts Augen weiteten sich, Hals und Kiefer lösten ihre Verspannung.
„Nicht die kleinste Narbe mehr. Da bleibt dir die Spucke weg, Alter, oder?“
Er stieß die Hand mit der Tüte nach vorn und nutzte die Verblüffung des Gefesselten, sie ihm in den Rachen zu stopfen. Während er sich wand und auszuspeien versuchte, hatte er auch schon eine Spitze des Holzspreißels am Gaumen, wich aus vor Schmerz, was der Gnom nutzte, um ihm die andere Spitze in die Halsbeuge zu bugsieren und die Doppelknebelung zu vollenden. Helfert würgte an der Tüte, überdrehte seinen Kopf, um das Marterholz loszuwerden, aber jede Bewegung führte nur dazu, dass die beiden Spitzen sich tiefer ins Fleisch drückten und in der jeweiligen Knochenbeuge verhakten. Er brüllte aus Leibeskräften, aber heraus kam nur ein verzweifeltes Grunzen.
„Wir haben ihn“, stellte der Gnom fest und starrte mit kalter Mordlust auf den ihm ausgelieferten Feind. „Ich denke, wir fangen mit den Fingernägeln an. Willst du zuerst?“
Er schaute seinen Bruder an, der nicht ganz so eiskalt über der Situation stand, aber seine Angststarre abgeschüttelt hatte. Der Hase nickte, suchte sich eine Flachzange aus, beugte sich über die gefesselte rechte Hand seines Opfers und begann, am Daumen beginnend, abzuzählen: „Enemenemu und raus bist du.“
Die Nägel waren zu kurz geschnitten für die Flachzange. Ungerührt ersetzte er sie durch eine feine kleine Zwickzange, bekam den Mittelfingernagel mühelos fest zu packen und schaute seinem Opfer lächelnd in die Augen.
„Ausreißen geht irgendwie zu schnell, finde ich.“
Statt dessen bog er die Zange langsam und kraftvoll nach hinten.
„Hör auf!“
„Wieso?“
„Mann, schnallst du’s nicht? Hey!“
Er stieß ihn an und zeigte auf den Kopf des Opfers. Der Hase war so weggetreten gewesen in seiner Konzentration, dass ihm etwas Wesentliches entgangen war. Das vom Knebel gedämpfte Schreien hatte aufgehört. Helfert hatte sich in eine Ohnmacht geflüchtet.
„1 – 2 – 3 – 4 – 5. Fertig.“
Amelie hörte die fünf Zahlen und das Wort „fertig“. Sie erkannte die Stimme. Sie spürte, dass etwas an ihrem linken Auge passierte. Aber sie steckte so fest in ihrer morgendlichen Hölzernheit, dass sie nicht schauen konnte, nicht sprechen, nicht mal deuten, was vorging. Sie war steif wie ein Brett. Sie war tot wie ein Stein. Ihr Verstand war flach wie die Nulllinie nach dem Herzstillstand. Sie war da, aber zu nichts in der Lage. Ihr Bewusstsein lief auf Standby. Sie wusste, dass sie wach war und sie selbst war, mehr nicht.
Die Panik über ihre Hilflosigkeit war es bei den ersten Malen nach den ersten Nächten gewesen, die als Energieschub ausgereicht hatte, ihre Lebensgeister hochzufahren und die Starre zu durchbrechen. Diesmal blieb die Panik aus, da sie nicht überrascht war. Der Zustand war ihr vertraut. Er würde enden. Aber in diesem untätigen Vertrauen lag eine Gefahr. Ohne Angst vor dem Zustand würde er niemals enden. Je gewohnter er war, desto endgültiger.
Aber nicht mal diese Bedrohung, ob eingebildet oder echt, reichte an diesem Morgen als Zündfunke aus, den Motor in Gang zu bringen. Amelies Gedanken drifteten ab, sie grübelte nach über das, was sie gehört hatte, und suchte nach dem Namen, der zu der Stimme passte.
Ihr wurde klar, dass sie krank war. Irgendwas ging kaputt in ihrem Körper. Nicht nur, dass er nicht gehorchte, er schien ein Eigenleben zu führen. Er schien ihr zu trotzen. Diese Totenstarre, das war keine Unfähigkeit, sich zu bewegen, sondern die Weigerung ihres eigenen Körpers, ihr zu gehorchen.
Amelie konzentrierte sich. Sie war jetzt ganz wach und sich in völliger Schwärze und Stille ihres Bewusstseins gewahr. Wenn es ihr nur gelang, eine kleine Bewegung zu koordinieren, ein winziges Augenflattern oder Mundöffnen, dann wäre die Verbindung wiederhergestellt.
Die Verbindung brach ganz ab.
Als ihr klar wurde, dass Körper und Seele entzweigeschlagen
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