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Toten-Welt (German Edition)

Toten-Welt (German Edition)

Titel: Toten-Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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worden. Als diejenige, die sie jetzt war, konnte sie Ordnung und Polizeigewalt nicht brauchen. Sie war vom fleißig sich drehenden Rädchen in dieser bestehenden Gesellschaft zum Sand im Getriebe geworden. Sie hatte die Chance, die Menschheit von jetzt an zu bekämpfen und zu beseitigen – oder lief in Gefahr, von ihr außer Gefecht gesetzt zu werden.
    Andererseits hatte sie so ihre Zweifel, ob man sie in ihrer neuen Erscheinungsform überhaupt außer Gefecht setzen konnte. Sie war die Treppen runtergeknallt, die Steinstiegen in ihrem eigenen Haus, die sie zehntausendmillionenmal rauf und runter gelaufen war in ihrer Rolle als Mieterin dieser Mietskaserne. Irgendwie hatte sie sich verstolpert, war voll mit dem Brustkorb auf eine Kante gestürzt und hatte sich mehrere Rippen gebrochen. Mindestens eine spießte in die Lunge und erzeugte bei jeder Bewegung ein blubberndes Pfeifen, aber juckte sie das? Nicht die Bohne. Die Polizeigewalt konnte gern mal auf sie schießen. Vielleicht nicht gerade in den Kopf, aber Arm-, Bauch- und sonstige Schüsse würde sie wohl wegstecken. Scheiß auf die Bullen!
    Sie, die bisher so biedere und gebildete Bürgerin, wunderte sich über ihre eigenen Gedanken. Sie hatte sich nicht nur für wohlerzogen, sondern für eine Dame gehalten. Es war sogar eines ihrer Hobbys gewesen, sich Vokabeln einer gehobenen Sprache einzuprägen und zu versuchen, sich möglichst gewählt auszudrücken. Das stand nicht im Widerspruch zu ihrer Soap-Leidenschaft, hatte sie damals gemeint.
    Jetzt fand sie das schon und freute sich darüber. Das minderwertige Geschwafel, das sie dabei in sich aufgenommen hatte, machte ihr jetzt Spaß. Sie würde Chaos stiften, auch ohne den blöden Wichser, der mal ihr scheißverdammter Chef gewesen war.
    Sie verpasste ihm einen Schwinger in die Weichteile. Und war nicht wenig erstaunt, als er empört aufstöhnte, die blutunterlaufenen Augen aufschlug und sie giftig anstarrte.
     
    „Das ist alles, was von ihm übrig ist? Eine halb volle Whiskey-Flasche voll Asche?“
    Amelie konnte nicht sagen, dass sie ihn inzwischen gemocht oder sich auch nur an ihn gewöhnt hätte, aber sie hatte seine Unsterblichkeit als Tatsache akzeptiert gehabt – und war nun geschockt über das rasche und vollständige Ende.
    „Das ist das, was von uns allen mal übrig bleibt, Schätzchen.“
    Es klang ironisch, aber auch ein bisschen wehmütig.
    „Na ja, was mich betrifft, könnte es auch ein körperförmiger Lederlappen sein.“
    Amelie ignorierte die Bemerkung.
    „Aber warum haben Sie das getan? Ich dachte, Sie brauchen ihn noch!“
    „Er ist ja noch da. Erstens. Und zweitens: Wenn Sie nicht ebenso enden wollen, verraten Sie mir vielleicht jetzt mal, wo Hermann Klangfärber sich versteckt. Wie er sich nennt und aussieht. Was er treibt. In welcher Beziehung Sie zu ihm stehen. Und wen Sie verdammt noch mal umgebracht haben. Schätzchen.“
    „Sie machen mich nicht zu Asche. Ich bin Ihre einzige Spur.“
    „Asche mit Inhalt. Ob Sie’s glauben oder nicht, er kann jedes Wort verstehen. Vermutlich sieht er uns auch. Oh, wie hat er den Rollstuhl und die Windeln und den Namen Schrumpelchen verabscheut, aber jetzt hätte er seinen Krüppelkörper so gern zurück. Wenn ich die Flasche draußen an der Burgwand zerdeppere und er als Aschewolke davon segelt, wünscht er sich vielleicht die Flasche zurück. Schlimmer geht immer.“
    „Sie machen mir keine Angst.“
    „Will ich ja auch gar nicht, Schätzchen. Sie sind doch mein Schätzchen? Dann sagen Sie mir, was ich wissen will.“
    Sie schaute Amelie an, wartete ein paar Sekunden, seufzte und ließ sich auf einem Stuhl nieder. Zwischen Sitzfläche und Lehne waren dünne Plastikschnüre gespannt, um das Museumsstück vor gegenwärtigem Gebrauch zu schützen. Die Schnüre platzen unter ihrem Gewicht, die Stuhlbeine ächzten.
    „Ich erzähle Ihnen jetzt mal eine Geschichte, Schätzchen. Ich erzähle sie Ihnen so als sei ich die handelnde Figur in einem Roman. Natürlich bin ich die Hauptfigur. Wie in der Gegenwart, so in der Vergangenheit. Verzeihen Sie mir, wenn das jetzt arrogant klingt. Es wird eine längere Geschichte, daher ein guter Rat: Nehmen Sie sich vorher eine Stunde oder zwei und tun Sie noch mal, was Ihnen in Ihrem bisherigen Leben Spaß gemacht hat. Es wird bald vorbei sein. Ich meine nicht Ihr persönliches Leben, sondern das gesellschaftliche Leben, das Sie kannten. Gönnen Sie sich noch mal ein heißes Bad oder surfen Sie im Internet.

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