Toten-Welt (German Edition)
bisheriges Dasein vermisste, aber es war in einer Rinne verlaufen, die zu ihrem Wunschleben geführt hätte. Die jetzige Rinne führte in die Dunkelheit.
Der Begriff Dunkelheit war wie eine Ahnung. Wenn eine Leiche wiederaufstand und eine zweite, dann wohl bald auch eine dritte und vierte. Hunderte Menschen liefen herum, die nach ihrem Tod folgen würden. Davor konnte man nur fliehen, und entweder brachte sie ihren Liebsten nun endlich genau dazu und rettete sich, oder sie würde, am Abgrund des Todes stehend, zum ersten und wohl letzten Male in sich aufnehmen, sich durchdringen lassen und völlig eins werden, womit das Leben immer wieder neu begann.
Vielleicht lag sogar darin der Ausweg.
Und so ließ sie es nicht damit bewenden, den bisher so standhaften Mönch durch den Anblick ihrer Bereitwilligkeit zu verführen. Sie stand auf und warf sich an ihn, presste ihn an sich, zwang ihm ihren Duft auf und ihren Liebesatem ins Ohr, hob ihm die Kutte an und sich selbst das Gewand. Als er außer ihren nackten Schenkeln auf seinen nackten Schenkeln auch noch etwas anderes spürte, weiter oben, gab er endlich nach.
Bruder Daniel mochte die halbe Nacht an der Fichte am wüst gefallenen Dorf gestanden haben, da waren ihm seine Vorsätze wie in Lauge zersetzt und nicht mehr zu denken. Schlafen konnte er nicht, war doch sein neues Dasein keine Wachheit und damit etwas, das ohne Träume auskam. Bruder Hermann und die Hure Maria, irgendwie geisterten diese Namen noch durch sein totes Hirn, aber etwas damit anzufangen wusste er nicht.
Er ließ die Gier in sich wachsen. Er dachte an das Kloster, die Burg und die Stadt und dass er dort fände, wonach ihm mehr und mehr verlangte. Er schreckte davor zurück, einfach an einen dieser Orte zu gehen und seinen Hunger zu stillen, denn was seiner Erhaltung diente, konnte ihm auch gleich den endgültigen Tod bringen.
Er konnte es angehen wie ein Fuchs oder Luchs oder Wolf und im Schatten der Nacht eine schnelle Beute machen. Wie ein Werwolf. War er das, ein Werwolf, der die Heimlichkeit benötigte?
Hinter ihm knackte ein Ast. Das Geräusch ließ ihn nicht etwa erschrecken, denn es gab nichts, wovor er sich hätte fürchten müssen. Er wurde nur abgelenkt, und damit war es mit dem Resthauch menschlichen Denkens vorbei. Das Gespür übernahm die Oberhand und ließ ihn handeln ohne Denken. Das würde so bleiben, aber das wusste er nicht, weil es mit Wissen und Schlüsse ziehen nun vorbei war.
Ein Mann schlurfte an ihm vorbei im beginnenden Morgengrauen. Er erkannte ihn aus seinem früheren Leben. Das Kloster hatte seine Holzkohlen bei diesem Mann erstanden. Aber jetzt war er kein Mann mehr, sondern einer wie er. Beide sahen sich, und was sie sahen, war ihnen egal. Der Köhler torkelte voran auf das Dorf zu, und der Mönch ließ sich von seinem Impuls in Bewegung setzen und torkelte ihm hinterher.
„Bereust du es?“, fragte Maria, als sie beide schweigend lange genug dem Sturm von Gefühlen nachgespürt hatten, der nun verklungen war. Sie lagen auf dem Strohbett, das Maria gerichtet hatte, starrten das durchlöcherte Dach an und durch die Löcher in die Nacht hinaus, drückten sich aneinander und wollten nicht heraus aus dieser neuen Welt, in die sie eingetreten waren.
„Nein.“
Er sah sie an, schüttelte den Kopf, blieb ernst und bekräftigte: „Nein, auf keinen Fall.“
„Dann können wir nun fortgehen.“
„Wir werden fortgehen.“
„Am besten sofort. Noch ist der erste Sonnenstrahl fern genug.“
„Ich muss noch einmal zurück.“
Der Zauber verflog auf der Stelle. Sie rückte von ihm ab. Sie klang empört, als sie behauptete:
„Du kannst nicht mehr zurück. Du bist jetzt kein Mönch mehr.“
„Eigentlich war ich nie einer. Aber das hat niemand gemerkt, und es wird niemand merken. Bis ich dann weg bin.“
„Und wann soll das sein?!“
Ihre Stimme vibrierte vor unterdrückter Enttäuschung.
„Sehr, sehr bald.“
„Das sagst du seit zwei Jahren. Aber nun hat sich etwas geändert. Du kannst mich nicht mehr länger hinhalten.“
„Wir brauchen dieses Mittel.“
„Wir brauchen kein Mittel, das Tote aus den Gräbern holt.“
„Aber das tut es doch nicht. Der Köhler...“
„Inzwischen habe ich noch eine zweite Leiche am Hals, eine Städterin. Sie hat alles, was du brauchst, um deine Zweifel zu zerstreuen.“
Er hatte sich aufgesetzt und war nun hellwach. Sie hatte Entsetzen erwartet, aber was sie ihm ansah, war glühende Neugierde.
„Was meinst
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