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Toten-Welt (German Edition)

Toten-Welt (German Edition)

Titel: Toten-Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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Pause. Maria fiel auf, dass die Frau auch nicht zwinkerte. Noch kein einziges Mal bisher.
    „Sie haben...“
    „Ich bin... damals nicht gestorben. Und jetzt wieder nicht. Deshalb komme ich zu Euch.“
    Maria erinnerte sich an die schulmeisterlich gestellten Fragen Hermanns in Bezug auf den Köhler und überwand sich, es diesmal besser zu machen. Sie trat einen Schritt auf die Frau zu, ergriff ihr Handgelenk und fühlte nach dem Puls.
    Nichts.
    Die Haut war eiskalt.
    Noch größere Überwindung kostete es sie, das Nachthemd der alten Frau zu heben. Als sie Rücken und Hinterteil sah, ließ sie den Stoff wieder zu Boden sinken.
    Große violett schimmernde Flecken. Und eine Haut, die zerdellt und verdrückt und in der Verformung erstarrt wirkte wie nach langem Liegen. Jetzt begriff sie auch, was es mit dem Rosenkranz auf sich hatte. Die Schnur mit den kleinen Perlen wurde den Toten in der Stadt um die Handgelenke gewickelt wie eine Fessel, bevor man sie beisetzte. In diesem Fall war die Fessel mit Urgewalt gesprengt worden.
    „Wart Ihr schon unter der Erde?“, fragte Maria leise.
    „Keine Angst, ich... ich habe... das Grab ist wieder... geschlossen. Niemand wird es merken. Aber ich muss ja... irgendwohin. Ihr seid die einzige... und das Dorf hat viele leere Häuser.“
    „Habt Ihr Hunger? Durst?“
    Es klang albern in dieser Situation, aber Maria sagte vor allem deshalb irgendwas, um sich von ihrer Gänsehaut abzulenken. Sie würde mit einer Toten als Nachbarin leben. Und diese Leiche war nach dem Köhler bereits die zweite, die sie heimsuchte. Hermann hatte sie sein Mittel in den zurückliegenden Monaten an Hunderte von Leuten ausgeben lassen. Die Todesrate war hoch in diesen Tagen.
    „Hunger, jaaa.“
    Es klang kehlig und gierig.
    „Ich habe Brei. Und Äpfel.“
    Die alte Frau gab einen Laut von sich, der nach Abscheu klang.
    „Nein. Fleisch.“
    „Tut mir leid. Ich jage nicht und habe keine Haustiere.“
    „Oh. Ich nehme... wenn es Euch recht ist...“
    In ihrer steifen, leicht nach vorn geneigten Haltung drehte sie sich in Richtung der Hütte gegenüber, in der bis vor zwei Jahren Marias Onkel gelebt hatte. Er war der Schmied und zudem der heimliche Jäger des Dorfes gewesen. Die Knochen all der Wildschweine und Rehe hatte er in immer tieferen Löchern, die leider nie tief genug waren, neben seiner Hütte verschart. Auf Wilderei stand der Galgen. Der Gestank war ekelhaft gewesen. Zuweilen meinte Maria, ihn heute noch zu riechen.
    Dass sie, in Gedanken versunken, nicht geantwortet hatte, begriff die Tote als Zustimmung. Mit steifen Beinen setzte sie sich taumelnd in Bewegung. Maria sah ihr nach, bis sie in der Hütte verschwunden war. Sie war drauf und dran, zum Kloster zurückzueilen. Aber sie würde ausharren bis zur Nacht. In seinen gewohnten Mauern war Hermann der Stärkere; an ihrem Treffpunkt aber, in der kleinen, versteckten, von ihr mit Stroh und Feuerholz ausgestatteten Höhle, in der sie sich trafen, war sie die Hausherrin und Mächtigere.
    Sie würde ihn schon dazu bringen, sie mit dieser Heimsuchung nicht alleine zu lassen.
     
    Was er gesehen hatte, hätte ihm Mut machen müssen. Aber Bruder Daniel verharrte, an eine mächtige Fichte gestützt, an der Grenze des wüst gefallenen Dorfes und wusste nicht, wohin mit sich. Die alte Frau war wie er selbst. Und diese Hure und Hexe, die Bruder Hermann zur Sünde verführte, hatte sie nicht fortgeschickt. Vielleicht würde auch er hier unterkommen können. Ins Kloster konnte er nicht zurück. Wohin sollte er sonst gehen?
    Sein Hirn fühlte sich taub an, sein Denken verfing sich in den Fallstricken einer tiefen Müdigkeit. Als er erwacht war aus dem Schlaf, der viel mehr als das gewesen war, hatte er die Veränderung sofort bemerkt. Aber er wusste nicht, was geschehen war. Er war doch erst 39 Jahre alt. Es hätte nicht passieren dürfen, noch nicht.
    Sicher, er war kein gesunder Mann gewesen. Bruder Hermann hatte ihm mehr als einmal sein wohltuendes Kräutergetränk mit dem seltsam unkräuterartigen Beigeschmack verabreichen müssen, weil sein Herz so Schmerzen strahlte als wolle es ihm den Brustkorb ausbrennen. Nun war er die Pein über Nacht losgeworden. Aber es schien ihm, als habe damit auch alles aufgehört, was ihm lieb und teuer gewesen war. Er hatte Angst, sich seinen Mitbrüdern zu zeigen. Eigentlich gab es keinen Grund dafür. Niemand wusste, wie entsetzlich er sich in der Nacht zuvor gefühlt hatte. Niemand hatte an seiner plötzlichen

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