Toten-Welt (German Edition)
bodenlange Kutte, die er fast ein Leben lang getragen hatte, störte ihn nun beim Gehen. Die Fähigkeit, sich in etwas zu vertiefen, schien ihm gänzlich abhanden gekommen. Ständig wurde er abgelenkt: hier ein Vogelschrei, dort ein Rascheln am Boden. Wind, der durchs Geäst fuhr. Seine Schritte, die Kutte, Wurzeln und Vertiefungen.
Er blieb stehen und lauschte. Eine weitere Ablenkung begann ihn für sich einzunehmen. Er witterte etwas, das ihn in Unruhe versetzte. Mit scheuchenden Handbewegungen versuchte er die Kapuze zurückzuschlagen, um besser hören und die Nase frei drehen zu können. In seiner Aufregung gelang es ihm nur mühsam, den schweren, steifen Stoff über dem Kopf loszuwerden. Am liebsten hätte er sich die ganze Kutte vom Leib gerissen.
Was war das nur?
Es roch nach etwas, das er kannte. Es regte Gefühle in ihm, die alltäglich waren, nur sehr viel stärker. Nie hatte er einen derartigen Drang in sich verspürt. Er hatte solchen Hunger!
Sein Fuß verfing sich in einer Wurzel, und er fiel mit der ganzen Wucht seines Vorwärtsdrangs zu Boden. Seine Arme waren nicht, wie sonst, von selbst nach vorne gezuckt, um den Sturz abzufangen. Mit der Nase schlug er auf einen Stein. Das Nasenbein brach. Er spürte es nicht.
Wenn er nur die Witterung nicht verlor.
Dass eine gebrochene Nase verstopfen würde, wusste er, aber sie verstopfte nicht, da kein Blut kam und keine Schwellung, und irgendwie wusste er auch das. Alles keine Sorgen mehr wert. Seine Sorgen hatte er hinter sich gelassen. Für immer.
Maria glaubte nicht an Gespenster, aber erschrak trotzdem, als sie die bleiche, wie durchscheinende Gestalt aufleuchten sah. Sie kam aus dem Schatten des Waldes heraus, und auch ihr Haus lag im Schatten. Aber auf das Wesen, das davor leicht zur Seite geneigt, reglos und mit wehendem weißen Haar verharrte, fiel ein vereinzelter Sonnenstrahl und zeichnete es grell vor die schwarze Wand aus Baumstämmen. Besonders unheimlich wirkte das Gewand der fremden, schweigenden Besucherin. Es sah aus wie ein Nachthemd. Wer sollte sie am hellen Tag barfuß, mit offenem Haar und im Nachthemd besuchen kommen?
An der einen Hand der alten Frau hing etwas herab. Als Maria näherkam, erkannte sie das Geschlinge als Rosenkranz, der lose ums Handgelenk baumelte, aber zerrissen war. Das Nachthemd war von Dreck verschmiert, als sei die Frau über die Erde gekrochen oder habe sich im Laub gewälzt. Auch in den Haaren hing feuchter Lehm.
Die Greisin sah an ihr vorbei, aber begann sie nun zu bemerken. Der Kopf zuckte zu ihr herum, während der Körper steif in die andere Richtung gedreht verharrte. Es sah so aus als werde Maria nicht mit den Augen erkannt, sondern mit der Nase erwittert. Ein Auge der Frau war verklebt, das andere suchte sie durch einen schmalen Schlitz. Die Gesichtszüge blieben völlig unbewegt und sahen aus wie nach hinten strebend erstarrt.
„Habt Ihr Euch verlaufen?“, fragte Maria und kam sich dumm vor. Aber wie, wenn schon die Besucherin nichts sagte, hätte sie beginnen sollen?
Die Frau antwortete nicht. Ihr halb geschlossenes Auge sah an ihr vorbei, während die Nasenspitze leicht zuckte als würde sie suchend nach Marias Witterung den milden Sommerwind durchstöbern.
Irgend etwas schien sie zu irritieren.
„Ich hole Euch einen Krug Wasser.“
Maria wollte ins Haus gehen. Angst hatte sie nun nicht mehr, aber erstmals war ihr grundsätzlich unwohl beim Gedanken daran, ganz allein hier draußen zu sein.
„Kann ich... hier bleiben?“
Maria war schon halb im Haus gewesen, drehte sich jetzt um und wollte antworten, aber stockte, weil beim Anblick des steifen, schmutzigen Gesichts ihr der Gedanke kam, dass es falsch und völlig außerordentlich war, dieses Wesen etwas anderes als stöhnen und schreien zu hören. Als sei menschliche Sprache in ihrem Fall etwas aus der Vergangenheit, für immer vorbei.
„Das könnt Ihr leider nicht. Wo kommt Ihr denn her?“
„Ich kann sonst... nirgends hin.“
„Aber warum wollt Ihr ausgerechnet bei mir bleiben? Wir kennen uns nicht.“
„Vor einem Jahr.“
Die alte Frau unterbrach sich und schwieg. Es sah aus als müsse sie erst Luft holen oder sich sammeln.
„Ja?“
„Die schwarzen Blattern. Ich bin aus der Stadt. Hertha Glaser.“
Der Name sagte Maria überhaupt nichts. Aber sie hatte im letzten Jahr einige Fälle von schwarzen Blattern in der Stadt behandelt.
„Habt Ihr ein Mittel von mir bekommen?“
„Ich bin...“
Wieder diese luftleere
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