Totenacker
Unterstadt bombardiert wurde; er ist nur durch Zufall entkommen. Mein Onkel ist jedenfalls sicher, Lis und Lisken auf der Station gesehen zu haben, als er seinen Bruder ein paar Tage vorher besuchte. Die beiden hatten wohl ebenfalls Scharlach.»
«An diese Frauen müssten sich doch auch noch andere Klever erinnern. Sie waren ja nicht gerade unauffällig», sagte Cox. «Die Niederrhein Post könnte etwas darüber bringen.» Er rieb sich die Augen. «Das klingt jetzt vielleicht sentimental, aber als Bernhard Claassen mir gestern sagte, er möchte, dass seine Schwester ein anständiges Begräbnis bekommt, da dachte ich: Wir werden die Täter wahrscheinlich nicht mehr zur Verantwortung ziehen können, aber wir müssen dennoch herausfinden, wer die Opfer sind, und ihnen ihre Würde zurückgeben.»
Bernie räusperte sich. «Ich sehe das genauso. Wenn das sentimental ist, bitte schön.» Er schaute die anderen an. «Ich bräuchte mal eine kurze Pause.»
«Noch nicht», entgegnete Penny energisch. «Ich würde erst noch gern erzählen, was ich in Münster herausgefunden habe, bevor wir anfangen zu sortieren.»
Schnittges nickte ergeben.
«In diesem Archiv gibt es eine ganze Menge persönlicher Aufzeichnungen, aber sie sind schwierig zu lesen, weil sie durchsetzt sind von irgendwelchem religiösen Schnickschnack. Dass Krieg auch zu Gottes Schöpfungsplan gehört, dass Katastrophen nötig sind zur Läuterung der Seele, zum Beispiel. Und ständig halten diese Frauen Zwiesprache mit ihrem Gott – ganze Gebete haben sie niedergeschrieben. Sie schwärmen geradezu von der Liebe des Herrn, die sie zu den Gefilden der Ewigkeit trägt. Ihr könnt es euch vorstellen. Nun, letztendlich habe ich Folgendes herausgefiltert: Dr. Zirkel ist ein ‹feiner Mann›, von großer Herzensgüte und selbstloser Hingabe an seine Berufung als Heiler. Die Nonnen verehren ihn ausnahmslos. Jeden Samstag spendiert er ihnen ein paar Bleche Streuselkuchen und nimmt, ‹wenn es ihm irgend möglich ist, am Schmaus teil›. Selbst in den schweren Kriegszeiten hält er an dieser Tradition fest, organisiert Eier, Zucker, Butter, solange es eben geht. Zirkel besucht nicht nur jeden Sonntag die Messe in der Minoritenkirche, er geht auch regelmäßig zur Beichte.
Mit Oberarzt Reiter sieht es ganz anders aus. In der Messe sieht man ihn selten, zur Beichte geht er nie. Die Nonnen mögen ihn nicht: Er rede Zirkel nach dem Mund und dränge sich danach, ‹dem Professor Operationen abzunehmen›. Reiter arbeitet seit Kriegsbeginn an seiner Dissertation, die er bei der Medizinischen Akademie in Düsseldorf angemeldet hat, Zirkel ist sein Doktorvater. Das Thema der Arbeit kennen die Nonnen wohl nicht, aber sie erwähnen, dass Reiter sich im Keller des Krankenhauses ein Laboratorium eingerichtet hat, das stets abgeschlossen ist und aus dem hin und wieder Katzenlaute dringen.»
Das Telefon klingelte, Cox nahm ab.
«Hier ist ein Doktor, der unbedingt mit einem von euch sprechen muss.»
«Jetzt nicht!», schnauzte Cox, aber es war zu spät, jemand klopfte an die Tür.
Ein korpulenter Mann von Mitte fünfzig kam herein.
«Dr. Nagel!» Cox sprang auf und streckte ihm die Hand entgegen.
Der Arzt blickte freundlich. «Nett, Sie wiederzusehen.»
«Jean Nagel», stellte Cox ihn den anderen vor. «Er ist Psychiater in Bedburg und hat mir damals nach dem Attentat bei meiner Supervision geholfen. Was führt Sie denn zu uns?»
Nagel nickte grüßend in die Runde. «Ihre Kollegen von der Autobahnpolizei haben gestern in der Nähe von Elten einen Mann aufgegriffen», begann er nach kurzem Überlegen.
«Davon habe ich gehört», fiel es van Appeldorn ein. «Der hatte die Autobahn wohl mit dem Nürburgring verwechselt. Soweit ich weiß, ist er zu euch nach Bedburg gebracht worden.» Er deutete auf einen Stuhl. «Setzen Sie sich doch.»
«Gern, danke.» Nagel nahm Platz. «Das stimmt, man hat ihn in die Klinik gebracht, weil er auf die Beamten wohl einen verwirrten Eindruck machte.» Er schmunzelte. «Ich an seiner Stelle wäre wohl auch verwirrt gewesen.» Dann besann er sich. «Wie auch immer, der Arzt vom Dienst hat Herrn Hetzel mit Verdacht auf Schizophrenie aufgenommen. Heute Morgen habe dann ich Herrn Hetzel eingehend untersucht, und ich kann Ihnen versichern, dass er psychisch vollkommen gesund ist.» Er zögerte. «Ich gebe zu, die Geschichte, die er erzählt, klingt abenteuerlich, aber meiner Meinung nach muss man ihn ernst nehmen.»
«Was erzählt er denn?»,
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