Totenacker
Nachmittag zu ihm ins Büro gekommen war: Bernhard Claassen, neunundsechzig Jahre alt und früher einmal Zuschneider in der Kinderschuhfabrik.
«Das Kind in der Zeitung ist meine Schwester Rosel», hatte er ohne den leisesten Zweifel mitgeteilt und Cox ein verblichenes, unscharfes Foto hingelegt: ein blondes Mädchen mit einem kleinen Lächeln und einem unnatürlich großen Kopf.
«Das muss im Sommer 44 aufgenommen worden sein, da war sie anderthalb.»
Sie war im Antonius-Hospital an Scharlach gestorben.
«Ich war selbst erst vier Jahre alt, aber ich weiß das trotzdem genau, weil meine Mutter ihren Lebtag lang davon gesprochen hat. Sie ist nie darüber hinweggekommen, dass sie Rosel nicht mehr sehen konnte – als sie tot war, meine ich.»
Die Mutter war jeden Tag im Krankenhaus gewesen und hatte durch die Glasscheibe der Isolierstation ihr Kind bewacht. Bis der Arzt ihr gesagt hatte, sie solle nicht mehr kommen, sie würde das Kind nur aufregen. Am Tag, als die Stadt zum ersten Mal bombardiert wurde, hatte die Mutter Sachen gepackt, denn sie sollten evakuiert werden. Und sie hatte geweint, weil sie Rosel nicht mitnehmen durfte.
«Aber wie können Sie so sicher sein, dass es sich um Ihre Schwester handelt?», hatte Cox gefragt.
«In Kleve gab es sonst kein Kind mit einem Wasserkopf.»
Die Nonnen hatten der Mutter berichtet, die Kleine sei am Nachmittag verstorben und ins Leichenhaus gebracht worden, nur Minuten bevor die Bomben fielen und der Teil des Gebäudes zerstört worden war. Man habe es nicht geschafft, ihren Leichnam und die anderen Verstorbenen zu bergen, und nach dem zweiten Angriff sei es dann schier unmöglich gewesen.
Ob es denn mit den modernen Methoden heute wohl eine Möglichkeit gab zu beweisen, dass es sich um seine Schwester handelte, hatte Bernhard Claassen gefragt. Er wolle doch, dass sie ordentlich beerdigt werde, ein eigenes Grab bekam, das er besuchen konnte.
Das sei sicher möglich, Cox versprach ihm, dass er sich darum kümmern würde.
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Neun
«Der Mann war absolut sicher, dass es sich um seine Schwester handelt», beendete Cox seinen Bericht.
Schnittges betrachtete das Foto des Mädchens. «Ein Kleinkind, da wird uns Arends Gesichtsrekonstruktion wohl nicht weiterhelfen», meinte er. «In dem Alter sehen sie sich alle noch ziemlich ähnlich. Außerdem kann die Geschichte nicht stimmen. Wenn das Mädchen nach den beiden Bombenangriffen unter den Trümmern verschüttet war, wie ist es dann in das Massengrab am Opschlag gekommen?»
«Wir werden sehen», sagte van Appeldorn. «Lasst uns erst einmal zusammentragen, was wir in den letzten zwei Tagen herausgefunden haben. Willst du beginnen, Bernie?»
Der nickte. «Ich habe euch ja schon erzählt, dass man in der Bedburger Klinik ein Wehrmachtslazarett eingerichtet hatte, mit Betten für über zweitausend Soldaten. Deshalb begann man im März 1940 mit der großen Massendeportation der Psychiatriepatienten in die Tötungsanstalten. Es waren so viele Menschen, dass die aufnehmenden Kliniken sich beim Anstaltsleiter beschwerten, weil sie mit dem Töten nicht mehr nachkamen. Lediglich ein paar hundert Schwerstkranke blieben in Bedburg.
Dann stellte man plötzlich fest, dass man nicht mehr genügend Arbeitskräfte hatte, um den Betrieb des Lazaretts aufrechtzuerhalten. Also fing man 1941 damit an, die arbeitsfähigen Patienten, die man noch nicht getötet hatte, nach Bedburg zurückzuverlegen. Um den Klinikbetrieb am Laufen zu halten – Landwirtschaft, Gärtnerei, Technik, Wäscherei, Näherei, Küche –, brauchte man fünfhundertfünfzig Männer und dreihundertfünfzig Frauen, und genauso viele Patienten kamen – als kostenlose Arbeitskräfte – nach Bedburg zurück.
Schon im Sommer 1943 platzte die Klinik aus allen Nähten. Inzwischen waren dort auch Zwangsarbeiter untergebracht, täglich wurden neue verwundete Soldaten und zivile Opfer der Bombenangriffe eingeliefert. Es gab einfach nicht mehr genug Platz für alle, und so begann eine zweite Deportationsphase. Bis auf die nötigen Arbeitskräfte wurden alle psychiatrisch Kranken nach Polen gebracht.
Der Anstaltsleiter beschwerte sich mehrfach bei der NSDAP-Kreisleitung, dass der Abtransport nicht schnell genug ging, und verlangte den Einsatz von Bussen.
Nach den Angriffen auf Kleve mussten auch noch die Patienten des St.-Antonius-Hospitals untergebracht werden, immerhin 342 Patienten. Das passte nun gar nicht. Die Front rückte näher. Verwundete
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