Totenacker
Soldaten mussten versorgt und wieder einsatzfähig gemacht werden. Zivile Kranke störten den Betrieb, brauchten Ärzte und Pfleger, die es ohnehin nicht in ausreichender Anzahl gab. Also plante man den Abtransport der Klever Kranken. Wohin, ging aus den Unterlagen nicht hervor. Aber dazu kam es nicht mehr, denn im Oktober 1944 brachen die Transportmöglichkeiten vollends zusammen.»
Er nahm ein paar Zettel zur Hand.
«Dies sind die Beschwerdebriefe, die der Anstaltsleiter an die NSDAP-Kreisleitung geschickt hat. Unter ihnen ist auch ein Brief von Dr. Zirkel, vermutlich hat er dem Anstaltsleiter eine Kopie zukommen lassen. Er ist an die NSDAP in Kleve gerichtet. Zirkel verlangt darin die Zurverfügungstellung eines Wehrmachtsbusses für die Verlegung einer Gruppe Kranker nach Bedburg zwecks weiteren Abtransports von dort. Die Betten der nämlichen Patienten würden für die Akutversorgung gebraucht, begründet er. Und er droht, sich an übergeordnete Kommissare der Reichsleitung zu wenden. Der Brief ist vom 21. September 1944.»
«Das war fünf Tage vor dem ersten Bombenangriff», sagte Cox nachdenklich. «Eine Gruppe von Kranken … Akutversorgung … Ob er die Betten für verwundete Frontsoldaten brauchte? Aber die kamen doch ins Lazarett nach Bedburg, oder?»
«Ja», bestätigte van Appeldorn, «aber möglicherweise gibt es einen anderen Grund. Ich war im Krankenhaus und habe mich durch die, zugegeben recht spärlichen, Unterlagen gewühlt.
Dr. Reinhard Zirkel war nicht nur der Chefarzt des Antonius-Hospitals, sondern auch seit Januar 1940 außerplanmäßiger Professor an der ‹Medizinischen Akademie in Düsseldorf›, ein hochangesehener Mann. Er blieb auch nach dem Krieg Chefarzt, bis er 1961 in Rente ging. Danach war er weiterhin im Vorstand des Hospitals, Kirchenältester und zeitweise Vorsitzender des Rotary Clubs, einer Vereinigung von Männern – ich habe es mal nachgeschlagen – unter dem ‹Ideal des Dienens›.»
«Na, das passt doch», schnaubte Bernie. «Gedient hat er ja. Sogar dem Führer.»
«Aber das kann doch nicht sein!», regte Penny sich auf. «Die können den doch nicht einfach behalten haben, er hatte doch aktiv mitgemacht.»
«Das wird er wohl kaum an die große Glocke gehängt haben», gab Schnittges zurück.
«Er nicht, natürlich, aber andere müssen doch auch Bescheid gewusst haben.»
«Ach, Herrgott, man war froh, dass man sein Leben hatte. Mein Großvater war in Krefeld als LKW-Fahrer zwangsverpflichtet. In den letzten Kriegstagen musste er russische Zwangsarbeiter zu einer Kiesgrube fahren, wo sie exekutiert wurden. Der SS-Mann, der das Erschießungskommando leitete, wurde nach dem Krieg Landgerichtspräsident. Auch mein Großvater hat geschwiegen, und er war, weiß Gott, kein Feigling. Als kleiner Mann hattest du nichts zu sagen, daran warst du doch gewöhnt. Du nahmst es hin, dass die Bonzen Bonzen blieben, das war schließlich immer so gewesen.» Er nickte van Appeldorn zu.
«Gut», meinte der. «Ich habe mit meinem Onkel gesprochen.»
«Du hast einen Onkel?», rief Cox verblüfft.
«Ja.» Van Appeldorn musste schmunzeln. «Du nicht?»
«Nein.»
Van Appeldorn blinzelte verwirrt. «Wie auch immer», sagte er dann. «Mein Onkel war während des Krieges in Kleve, fünfzehn Jahre alt, als die Bomben fielen. Er hat mir erzählt, dass im August 1944 in der Stadt eine Scharlachepidemie ausgebrochen war. Nach kurzer Zeit schon war die Isolierstation des Krankenhauses zu klein, und man musste eine zweite Station umfunktionieren. Möglicherweise ist das gemeint, wenn Zirkel von Akutversorgung schreibt. Man brauchte Betten für die Scharlachkranken.»
«Klingt einleuchtend.»
«Mein Onkel glaubt, zwei unserer Opfer gekannt zu haben.» Er spürte, dass die anderen die Luft anhielten. «Na ja, gekannt ist wohl zu viel gesagt. Er weiß eigentlich nur, dass man sie Lis und Lisken nannte, also hießen sie wohl beide Elisabeth, an den Nachnamen erinnert er sich nicht. Mutter und Tochter, die Mutter hatte einen Klumpfuß, die Tochter einen Buckel. Sie hausten in einer Kammer in der Kavariner Straße, und von Lisken hieß es, dass sie gern mal für ein paar Groschen die Pennäler mit den Freuden der Liebe bekannt machte. Beide Frauen halfen im Krankenhaus aus, in der Küche, im Garten, in der Wäscherei, wo immer man sie brauchte, und bekamen dafür von den Nonnen Essen und Kleidung.
Auch der Bruder meines Onkels hatte Scharlach und lag auf der Isolierstation, als die
Weitere Kostenlose Bücher