Totenbeschwörung
eine Illusion handelte, die ihm sein eigenes Bewusstsein vorgaukelte. Trotzdem zog er das Aussehen eines Menschen demjenigen des Wesens, das ihn beherrschte, bei Weitem vor.
Abrupt wandte er sich von dem Spiegel ab und ließ seinen Blick durch den Vorraum schweifen, in den er durch einen engen, mit Vorhängen aus Fledermauspelz verhängten Türbogen gelangt war. Es schien sich um Wrathas Ankleidezimmer zu handeln, in dem sie sich um ihr Aussehen kümmerte, wenn sie allein war. Der Raum verfügte über ein steinernes Waschbecken, aus Eisenholz geschnitzte Regale, auf denen Puderdosen, Parfums und Öle standen, und diverse aus den Wänden gehauene Nischen, in denen an knöchernen Kleiderhaken Wrathas Gewänder hingen. Was Kleider anging, schien die Lady keinen Mangel zu leiden.
Was sie auf ihrer Haut trug, war aus allerfeinster Szgany-Spitze gearbeitet. Ihre Gewänder waren aus weichem Leder, ihre Kleider aus Fledermauspelz oder der zarten, weißen Haut neu geborener Albino-Bären. Wrathas Stiefel waren aus festem Ziegenleder, in bester Szgany-Handarbeit gefertigt. Die Sohlen ihrer Sandalen bestanden aus weichem, biegsamem Knorpel; geschnürt wurden sie mit dazu passenden Lederriemen. Eine Anzahl von mit komplizierten Mustern versehenen Knochenreifen schien eher der Zierde als einem praktischen Zweck zu dienen. Gemeinhin trug Wratha sie über der Stirn, um das zwar seltene, dafür jedoch umso beängstigendere Aufflammen ihrer Augen zu dämpfen, das ihre Wutausbrüche begleitete. Außerdem besaß sie einiges an Geschmeide – Ohrringe, Fuß- und Armreifen, Halsketten und Broschen, das meiste davon aus schlichtem Gold.
Nestor erfasste all dies und ertappte sich unwillkürlich bei dem Gedanken: Wenn ihre ganzen Sachen hier herumliegen, was um alles in der Welt kann sie dann jetzt bloß anhaben?
Nichts!, erscholl ihre Antwort, und ihr leises, unverkennbares Lachen hallte glockenhell durch seinen Geist. Warum trittst du nicht ein? Faszinieren meine Kleider dich so sehr? Nun, dann habe ich wohl das Nachsehen!
Abgesehen von dem Gang, durch den er hierhergelangt war, gab es nur eine weitere Tür. Nestor hielt den Atem an – warum, vermochte er nicht zu sagen, denn sein Entschluss stand fest und nichts in der Welt konnte ihn jetzt noch davon abbringen – und er trat durch einen weiteren Vorhang aus Fledermauspelz in Wrathas Schlafzimmer. Dort war sie, und wie versprochen umgab ihren Körper nichts als Schaum und Wasser!
Sie nahm ein Bad!
»Wie du siehst, ist hier genügend Platz für uns beide«, lächelte sie, und Nestor war, als habe er noch nie etwas Verführerisches gesehen.
Er war nun völlig in ihrer Hand. Sie hätte jetzt ihre Leutnants oder ein paar Wächter rufen können, und mit dem Nekromanten Lord Nestor Leichenscheu von den Wamphyri wäre es aus gewesen. Er wusste es und sie wusste es auch. Ebenso wussten sie beide, dass dies nicht in ihrer Absicht lag – nicht solange sie noch keine Antwort auf die eine große Frage hatte, die sie beschäftigte. Seit dem Morgen, an dem Wran der Rasende Nestor Vasagis Ei gegeben und ihn von der Sonnseite hierhergebracht hatte, fühlten Wratha und Nestor sich zueinander hingezogen, und dieses Gefühl war immer stärker geworden. Nun stand es kurz vor seiner Erfüllung.
Nestor trat einen Schritt auf die riesige Wanne zu. Sie war in den Boden eingelassen und maß mindestens zwei Meter im Quadrat. Ihr Rand war mit glasierten Szgany-Kacheln gefliest. Nestor blieb stehen und seine lederne Jacke glitt auf den grob gewebten Teppich. Unter dem Schaum war von Wratha so gut wie nichts zu sehen. Noch ein Schritt und Nestor hatte sich seines Hemdes entledigt. Sie streckte ihm die schneeweißen Arme entgegen und ihre Brüste teilten das Wasser. Feucht schimmernd ragten sie aus dem Schaum, und mit einem Mal ging Nestors Atem stoßweise.
»Glaubst du, du schaffst es?«, fragte sie. Ihre Augen, eben noch blutrot, glänzten dunkel wie die einer Zigeunerin. »Die Kunst der Verwandlung!«, erklärte sie. »Man verausgabt sich dabei bis zur Erschöpfung, aber mitunter ist es der Mühe wert – erst recht hier und jetzt, denn ich weiß, dass du noch sehr viel von einem Szgany an dir hast. Du willst Unschuld, Nestor, und du wirst feststellen, dass auch Wratha unschuldig sein kann, wenn es nötig ist.«
Er trat einen weiteren Schritt auf sie zu, und nun war er ebenso nackt wie sie.
»Du hast keine Ahnung, wovon ich spreche«, lächelte sie. Sie hatte in seine Gedanken geblickt. »Wer weiß,
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