Totenbeschwörung
echt.
Die Falten auf Nestors Stirn glätteten sich allmählich. Schließlich schüttelte er den Kopf und seufzte. »Nein, es ist alles in Ordnung! Geh jetzt!«
»Willst du mich denn ... nicht mehr?«
»Nicht im Augenblick!« Und wahrscheinlich auch nie wieder! Ihre Reize lockten ihn nicht mehr und dabei war er noch nicht einmal bei Wratha gewesen. »Später vielleicht!« Aber nur vielleicht.
Sie wirkte traurig und ließ den Kopf hängen. »So sei es«, nickte sie. Damit zog sie die Vorhänge hinter sich zu und stieg die Treppe wieder hinab. Er konnte sich nicht erklären, warum, aber auf einmal spürte Nestor einen Kloß im Hals. Darum rief er ihr nach: »Wie geht’s dem Kleinen?«
Die Schritte verhielten und ihre Antwort scholl von unten herauf: »Er ist putzmunter! Willst du ihn einmal sehen? Soll ich ihn dir bringen?«
»Nicht im Augenblick!«, erwiderte er abermals. »Vielleicht später ...« In Wirklichkeit hatte er nicht das geringste Interesse an dem Kind. Hin und wieder fragte er sich sogar, was ein Säugling überhaupt in der Saugspitze zu suchen hatte. Er hätte damals besser auf Canker gehört, Glina kurzerhand erschlagen und das Kind dem Hunde-Lord zum Frühstück überlassen sollen. Es verhielt sich nur so, dass Glina ihm zu jener Zeit durchaus von Nutzen gewesen war. Und wer konnte schon sagen, ob er sie eines Tages nicht wieder brauchte? Immerhin machte sie sich in seinem Bett besser als die meisten anderen ...
Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, war sie auch schon verschwunden.
Doch als er über eine schmale, von Spinnweben verhangene Stiege, die schon seit Langem niemand mehr benutzt hatte, empor in die Wrathspitze stieg, sah sie ihm von einer düsteren Nische aus zu. Der Versuch, etwas vor Glina zu verbergen, war sinnlos, denn sie konnte sich an fünf Fingern ausrechnen, was Lord Nestor Leichenscheu vorhatte ...
Wratha hatte ihm zugesichert, dass es einfach sein werde. Doch Nestor konnte kaum glauben, wie leicht sie es ihm machte. Auf seinem Weg hinauf in die Wrathspitze begegnete er nicht einem einzigen Krieger, noch nicht einmal einem Leutnant oder gemeinem Knecht. Aus den Pferchen hinter Wrathas Landebuchten hörte er das unterdrückte Wimmern der Flugbestien. Im darüber liegenden Stockwerk vernahm er fernen Lärm und ein beständiges Klirren. Anscheinend hatte ihn eine der Kreaturen gewittert und zerrte nun wie verrückt an ihren Ketten. Noch ein Stockwerk höher war ihm, als nehme er einen Schatten wahr, der sich still und leise zurückzog und im Dunkel verschwand. Doch sonst geschah nichts.
Zugegeben, von den Hauptgängen und -treppen hielt Nestor sich fern und nahm stattdessen einen beträchtlichen Umweg in Kauf. Und es war eine Tatsache, dass die Vampire der Wrathspitze sich zu Bett begaben, sobald der Morgen dämmerte, und nur eine Handvoll Wachen nach dem Rechten sah. Doch abgesehen vom Wimmern der Flieger, dem fernen Rumoren irgendeines grässlichen Wächters und dem Schatten, der im Dunkeln vorüberhuschte, war ihm nichts und niemand begegnet, um ihn abzuschrecken oder aufzuhalten.
Als er das vorletzte Stockwerk erklomm, kam ihm eine hübsche Vampirsklavin entgegen, die sich vor ihm verneigte und sich als Wrathas Zofe vorstellte. Ihr Kleid war fast durchsichtig und so tief ausgeschnitten, dass es ihre Brüste beinahe in voller Pracht enthüllte. Sie war wohl geformt, und Nestor fand sie mindestens genauso attraktiv und begehrenswert, wenn nicht begehrenswerter als die Frauen in der Saugspitze. Sie hatte den Auftrag, ihn zu ihrer Herrin zu führen.
Während er ihr folgte, warf sie ihm in gespielter Unschuld einen Blick zu und sagte: »Meine Gebieterin hofft, dir sind auf dem Weg hierher keine Widrigkeiten begegnet?«
»Nicht eine einzige«, entgegnete er. »Ich habe einen kleinen Umweg gemacht – aus Gründen der Diskretion!«
»Ich bin überzeugt, meine Lady wird dies zu schätzen wissen. Du hättest aber ebenso gut den direkten Weg nehmen können, immerhin hat Wratha dich eingeladen. Und was die Diskretion angeht – meine Lady befiehlt und ihre Sklaven gehorchen! Wenn sie ihre Knechte anweist, zu dieser oder jener Stunde zu Bett zu gehen und sich nicht mehr zu rühren, weil sie nicht gestört werden möchte, wäre es sehr unklug, ihrem Befehl nicht Folge zu leisten.«
»Ich verstehe.«
Er folgte ihr über eine schmale Stiege durch einen steil ansteigenden, aus dem nackten Fels gehauenen Gang. Die Düsternis machte den beiden nichts aus, denn ihre
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