Totenbeschwörung
er einmal mit Wratha darüber reden ... Wenn sie es sich leisten konnte, ihm Knechte aus ihrer Beute zukommen zu lassen, musste es ihr wohl besser ergehen als ihm. Vielleicht sollte er tatsächlich einen Handel mit ihr schließen ...
Bis spät in die lange Sternseitennacht hinein war Nestor mit der Verwaltung der Saugspitze beschäftigt, und ehe er sich’s versah, blieben ihm nur noch wenige Stunden bis Sonnauf. Er wies Zahar an, ihn zu wecken, wenn sich auf den fahlen Gipfeln des Grenzgebirges der erste helle Schimmer zeigte, und ging zu Bett. Drei Stunden vor dem Morgengrauen jedoch, während Zahar noch immer seinen Pflichten nachging, schreckte Nestor aus dem Schlaf.
Diesmal hatte er nicht geträumt. Dennoch stand ihm der kalte Schweiß auf der Stirn. Unruhig hatte er sich in seinem Bett hin- und hergewälzt und damit begonnen, einen klammen Vampirnebel auszustoßen. Es war der Egel in ihm! Sein Parasit wusste um seine Gefühle und erkannte die Gefahr, die darin lag. Also gaukelte er Nestor die schaurigsten Szenen vor und zeigte ihm, was alles passieren könnte, falls er nicht von seinem Vorhaben abließ. Doch Nestor verdrängte die nagenden Zweifel, und je näher der Zeitpunkt seiner Verabredung rückte, desto fester wuchs in ihm der Entschluss, Wratha aufzusuchen. Denn was er Canker gesagt hatte, war nur schwer zu widerlegen: Wratha verfügte bereits über genügend Macht. Sie nannte die größte Stätte der gesamten Felsenburg ihr Eigen und hätte nicht den geringsten Vorteil davon, Nestor zu verführen, nur um ihn anschließend umzubringen. Demnach blieb nur eine einzige Schlussfolgerung: Sie hatte tatsächlich ein Auge auf ihn geworfen! So einfach war das. Und was nun Nestor anging, er konnte sich kaum etwas Angenehmeres vorstellen, als das Bett mit Wratha zu teilen. Ob das Kribbeln, das er im Bauch spürte, auch später noch anhalten würde, vermochte er zum jetzigen Zeitpunkt natürlich nicht zu sagen, doch für den Augenblick genügte es ihm vollkommen.
Er stand auf, wusch sich gründlich und frühstückte. Es war zwar nicht unbedingt die übliche Zeit dazu, doch hielt er es für besser, eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen – etwas Honig von der Sonnseite, grobes Brot, frische Milch, die ihm seine Euterlinge lieferten (einige davon waren einst Frauen gewesen, bei anderen handelte es sich um Bergziegen; doch sie alle waren durch die unterschiedlichsten Verwandlungsprozesse ins Unermessliche angewachsen), und einen Happen Fleisch, einen zarten Hasen aus der Zucht der Saugspitze. Auf das Fleisch von Menschen verzichtete Nestor noch immer, lediglich den Saft, der das Leben bedeutete, also Blut, verschmähte er nicht.
Danach zog er sein Gewand aus und legte seine besten Kleider aus weich gegerbtem Leder an. Anschließend blieb ihm immer noch über eine Stunde, die er wartend verbringen musste. Ungeduldig streifte er durch seine Gemächer, tigerte unruhig auf und ab, obwohl er wusste, dass jedem, der ihn so sah, auf Anhieb klar sein musste, dass er auf Freiersfüßen ging. Doch niemand bekam es mit – bis auf Glina!
Sie war über ihre Wendeltreppe nach oben gestiegen und in einem von Vorhängen abgetrennten Türbogen stehen geblieben. Nestor war so in Gedanken versunken, dass er sie zunächst gar nicht bemerkte. Doch dann fuhr er sie an:
»Ja, was gibt es?« Er war selbst überrascht ob des übertrieben scharfen Tones, den er anschlug, als wolle er etwas verbergen. Als habe er, Lord Nestor Leichenscheu, es nötig, etwas vor einer gewöhnlichen Vampirsklavin wie Glina zu verbergen!
»Ich ... ich dachte, du hättest nach mir gerufen«, antwortete sie.
Ihm war klar, dass sie log. »Du spionierst mir nach!«, sagte er leise. Der ruhige Klang seiner Stimme verhieß nichts Gutes.
»Ich und dir nachspionieren, Nestor!?« So vertraulich hatte sie ihn von Anfang an angeredet. Wenn er sie zu sich ins Bett rief, verlangte er es sogar von ihr. »Weshalb sollte ich das denn tun? Ich weiß doch ohnehin alles, was es über dich zu wissen gibt. Ich wollte nur nachsehen, warum du so früh zu Bett gegangen und jetzt schon wieder aufgestanden bist. Triffst du dich mit jemandem?«
»Soll das etwa ein Verhör werden?« Er legte die Stirn in Falten. »Das wagst du nicht!« Seine Stimme klang immer noch ruhig, nun aber wieder schärfer. »Mit wem hast du gesprochen? Etwa mit Zahar?«
»Ich habe Zahar seit anderthalb Tagen nicht gesehen. Wieso? Ist irgendetwas nicht in Ordnung?« Die Besorgnis in ihrer Stimme klang
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