Totenbeschwörung
und verzog das Gesicht. »Bei Harry war die Begeisterung für die Mathematik wohl angeboren. Bei mir nicht. Ganz im Gegenteil! Ich sehe ohnehin immer nur Zahlen vor mir und weiß nicht, was sie bedeuten. Es ist eine Last, die ich mit mir herumtrage, und das ist allenfalls ermüdend.«
Trask nickte. »Ich glaube, du brauchst nur ein bisschen Schlaf, das ist alles. Morgen wirst du dich wieder mit der elementaren Mathematik befassen. Mag sein, dass es bei Harry angeboren war, aber letzten Endes brauchte auch er einen ordentlichen Schubs, ehe es zum Durchbruch kam. In seinem Fall ging es ums Ganze, also sprang er ins kalte Wasser. In deinem Fall ist es nicht ganz so dringend. In drei oder vier Monaten werden wir alles vorbereitet haben, um dich durch das Tor in Rumänien wieder nach Hause zu schicken – falls es überhaupt möglich ist. Bis dahin stehst du unter unserem Schutz. Deshalb gebe ich dir den Rat: Lerne alles, was du lernen kannst, und höre auf das, was deine Lehrer dir sagen! Und sollte Keenan Gormley tatsächlich mit einer einfachen Lösung aufwarten, dann umso besser!«
Die beiden Wagen beschleunigten und brachten sie zurück in die Zentrale des E-Dezernats.
Aus Harrys Zimmer war nun Nathans Zimmer geworden. Folglich zog Nathan sich, nachdem er mit Trask und Zek »unten« im Hotelrestaurant gegessen hatte, dorthin zurück, um nachzudenken. Während des Abendessens waren ihm zwei Männer aufgefallen, die an einem Tisch in der Nähe saßen und ihn hin und wieder aus kalten, ausdruckslosen Augen musterten. Trasks Blick war dem seinen gefolgt und er hatte ihn ermahnt: »Achte nicht zu offensichtlich auf sie. Die beiden gehören zum Sicherheitsdienst, nicht zum E-Dezernat. Sie sind hier, um auf dich aufzupassen!«
Er hatte also Aufpasser! Seine Leibwächter waren wie Chamäleons – sie wechselten ständig. Er war bereits einigen begegnet; aber sie kamen und gingen wieder. Manchmal war jemand vom E-Dezernat dabei, andere Male waren sie allein. Sie beschützten ihn ... vor Turkur Tzonovs Rache.
Aber falls Tzonov Siggi tatsächlich durch das Tor geschickt hat, dachte Nathan, als er in seinem Sessel neben dem Bett saß, dann wird er derjenige sein, der jemanden braucht, der ihn beschützt. Und zwar vor mir! Das war ein feierlicher Eid. Doch was Eide anging ... nun, davon hatte er schon einige abgelegt – und noch keinen erfüllt.
Draußen auf dem Flur hörte er leise, vorsichtige Schritte. Etwa schon wieder seine Aufpasser? Oder der Beamte vom Dienst? Fast ohne es zu wollen, ließ Nathan seine Gedanken schweifen und traf auf David Chung. Der Chinese (in Wirklichkeit ein waschechter Cockney) stand vor der Tür und hatte die Hand bereits erhoben, um anzuklopfen.
»Komm rein!« Nathan bat ihn herein, noch ehe er die Bewegung zu Ende führen konnte.
Achselzuckend trat Chung ein. »Ich habe heute Abend Dienst und kam gerade zufällig vorbei.«
»Tatsächlich? Und dann bist du genau vor meiner Tür stehen geblieben? Ich dachte schon, es sei einer meiner Aufpasser.«
»Nun, in gewissem Sinne bin ich das ja auch. Wie alle hier!«
Nathan verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, dass man so gut auf mich aufpasst!« Er blickte Chung, der an der Computerkonsole lehnte, direkt in die Augen. »Ich nehme dir auch nicht ab, dass du einfach nur so vorbeigekommen bist. Was hast du auf dem Herzen?«
»Es ist ... mein Talent, und dieses Zimmer und ... der Ohrring, den du trägst. Von Zeit zu Zeit langst du hin und berührst ihn ganz in Gedanken, so wie eben, als ich ihn erwähnt habe. Wir haben dich zwar nach Siggi Dams Clip gefragt, aber nicht nach diesem Ohrring. Könntest du ihn mal ablegen? Ich meine, würde es dir etwas ausmachen, wenn ich ihn für einen Moment in die Hand nehme? Kannst du mir verraten, woher du ihn hast?«
Nathan löste die goldene Schleife aus seinem Ohr und reichte sie Chung. »Ich bin überrascht«, sagte er, »dass mich bisher noch niemand danach gefragt hat.«
»Wir hatten ja gar keine Zeit dazu«, erwiderte Chung. »Wahrscheinlich gehen alle davon aus, du hättest den Ohrring von deiner Mutter, als Andenken an Harry oder so.«
Nathan schnaubte verächtlich und sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Soweit ich weiß, hat sie von meinem Vater nie etwas bekommen – bis auf mich ... und meinen Bruder Nestor.« Kaum hatte er es ausgesprochen, hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Eigentlich hatte er vorgehabt, Nestor ganz aus dem Spiel zu lassen, auch wenn er
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