Totenbeschwörung
jenes stotternden Einzelgängers aus Siedeldorf, dessen sehnlichster Wunsch darin bestanden hatte, in eine Fantasiewelt zu entfliehen. Andererseits war es aber auch nicht die Hölle! Die Nächte mochten zwar trostlos und regnerisch sein, aber immerhin brauchte er sich nicht vor irgendwelchen Ungeheuern zu verbergen, es sei denn, sie entsprangen seiner Erinnerung.
Neuerdings quälte Nathan der Gedanke an Turkur Tzonov, doch zumindest zählte Tzonov nicht zu den Wamphyri – auch wenn es nach allem, was das E-Dezernat über ihn wusste, durchaus zu ihm gepasst hätte. Über Tausende von Kilometern hinweg hatte Nathan keine Chance, Tzonov persönlich zu treffen; aber er würde alles daransetzen, seiner Organisation zu schaden und sein Vorhaben, Starside zu erobern, zu hintertreiben – falls nicht in dieser Welt, dann in seiner, Nathans, eigenen. Doch um dies zu tun, auch um Siggi Dam zu rächen, wenn nicht gar zu retten, musste er erst einmal wieder nach Hause gelangen und dabei alle Waffen mit sich nehmen, derer er habhaft werden konnte.
Nathans gefährlichste Waffe, hatte Trask ihm versichert, sei er selbst, allerdings nur, wenn er das Vertrauen der zahllosen Toten genoss und wie zuvor sein Vater Macht über das Möbius-Kontinuum erlangte. Dies im Hinterkopf, widmete er sich seinen Studien, vor allem der schwer fassbaren, scheinbar sinnlosen Mathematik, mit umso größerem Eifer und bereits nach zehn Tagen waren seine Fortschritte so weit gediehen, dass er stolz darauf sein konnte.
Am Morgen des elften Tages meinte Nathans Lehrer zu Ben Trask: »Wie es aussieht, ist er ein Naturtalent. Er begreift die Mathematik instinktiv. Anfangs war ich mir nicht sicher. Er war nur schwer aus der Reserve zu locken und ließ sich leicht ablenken. Aber jetzt ... Nun, es ist gut möglich, dass Sie bald einen Besseren als mich brauchen werden. Mein Wissen ist nur begrenzt!«
Trask musterte sein Gegenüber über seinen Schreibtisch hinweg. James Bryant entsprach in vielerlei Hinsicht dem Klischee des typischen Mathematikers. Wie er so vor ihm saß und durch seine dicken Brillengläser blinzelte, klein und schmal, sorgfältig in eine graue Hose und einen dunklen Rollkragenpullover gekleidet, wirkte er wie der Prototyp eines Intellektuellen. Er musste einfach irgendetwas unterrichten, vorzugsweise Mathematik. Der zuständige Minister hatte ihn von einer der Universitäten abgezogen, an der sein Vertrag gerade ausgelaufen war. Bryant war keineswegs ein Fachidiot. Auch ohne die Verpflichtung zur Geheimhaltung war ihm von Anfang an klar gewesen, dass das E-Dezernat keine gewöhnliche Regierungseinrichtung und Nathan kein normaler Student war. Aber heute Morgen schien er, aus welchem Grund auch immer, am Ende seiner Weisheit angelangt.
»Wie weit reicht Ihr Wissen eigentlich?«, fragte Trask. »Ich meine, wir haben noch so gut wie keine Zeit gefunden, uns einmal zu unterhalten, geschweige denn einander näher kennenzulernen. Ich weiß, Sie waren in ... Oxford? Unser Minister hätte Sie kaum für diese Stelle vorgeschlagen, wenn Sie nicht ein Top-Mann wären.«
Bryant nickte. »Wissen Sie, was Mathematik ist, Mister Trask? Wie man sie definiert? Mathematik ist, grob gesagt, die logische Beschäftigung mit Mengen und Größen. Sie bedient sich streng definierter Konzepte und stets gleichbleibender Symbole, um die Eigenschaften von Mengen und Größen und die Beziehungen zwischen ihnen gemäß ihrer jeweils eigenen Parameter zu erkennen. Es gibt die abstrakte und die angewandte Mathematik, sie kann Zusammenhänge aufzeigen oder rein theoretisch bleiben. Können Sie mir so weit folgen?«
Trask nickte und schüttelte zugleich den Kopf. »Ich bin kein Mathematiker, Mister Bryant. Ich kann Ihnen folgen und doch auch wieder nicht – wenn Sie verstehen, was ich meine? Schön, Einsteins Relativitätstheorie ist mir durchaus bekannt, das heißt aber noch lange nicht, dass ich sie auch begreife. Warum sagen Sie mir nicht einfach, was Sie bewegt und was Ihnen Sorge bereitet?«
»Ich mache mir Sorgen wegen Nathan. Das, was er wissen möchte, kann ich ihm nicht vermitteln. Mit Mathematik hat das nämlich nichts mehr zu tun. Vielleicht darf ich es Ihnen erklären?«
»Nur zu!«
»Betrachten wir noch einmal die Definition von Mathematik. Das erste Wort, über das wir stolpern, heißt logisch. Aber was Nathan vorhat, ist kaum mehr logisch zu nennen. Er verlangt, dass ich ihn in die Lage versetze, ›Türen heraufzubeschwören‹!« Resigniert zuckte
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