Totenbeschwörung
»Uns bleiben wenig mehr als sechs Stunden, um uns einzugewöhnen. Nun ja, um uns wenigstens ein bisschen vorzubereiten.«
»Der Ort ist verlassen«, sagte Nathan, während er aus dem Wagen stieg. »Aber gleich die ganze Straße?«
Trask nickte. »Am oberen und unteren Ende gibt es noch ein, zwei Läden, die aufhaben, und ein paar der Häuser sind noch bewohnt. Ansonsten ist die Gegend verlassen und auf dem besten Weg zu verwahrlosen. Sehen wir den Tatsachen doch ins Auge: Würdest du gerne hier wohnen?«
Paul Garvey, unfähig, auch nur eine Miene zu verziehen, hatte die Schlüssel zu dem Gebäude. Er öffnete die Tür und ließ Trask und das Team ein. Drinnen roch es schal und abgestanden, feucht und irgendwie sonderbar. Eher wie in der Höhle eines Tieres, aber nicht wie in einem leeren Gemäuer. »Der Geruch haftet in den Wänden«, erklärte Trask. Seine Stimme hallte von allen Seiten wider. »Und nicht nur dort! Die ganze Atmosphäre, die gesamte Aura ... Aber da hinten ...« – er verzog das Gesicht und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der Wachstube und des rückwärtigen Gebäudeteils, die von hier aus nicht einzusehen waren –, »... da ist es am schlimmsten!«
Ihre Schritte klangen merkwürdig gedämpft. Schweigend setzten die vier ihren Weg fort, passierten das Vernehmungs- und Wartezimmer und gelangten schließlich in die Wachstube mit ihrem leicht erhöhten Tresen und dem dahinter liegenden Arbeitsbereich. Trask hob eine in den Tresen eingelassene Klappe an und stieg ein paar flache Stufen hinauf ins Reich des wachhabenden Sergeants. »Hier haben sie an dem Abend, als alles anfing, gesessen und Karten gespielt. Und da unten« – mit einer Kopfbewegung deutete er auf eine offene Tür im rückwärtigen Teil, hinter der ein feucht glänzender Korridor in eine hallende, unsägliche Düsternis führte – »befindet sich das Leichenschauhaus.«
»Ist es in Ordnung, wenn ich mich mal ein bisschen umsehe?« Paul Garvey war noch nie hier gewesen. An einem riesigen Schlüsselring trug er alle Schlüssel bei sich, auch den zum Leichenschauhaus.
Trask nickte. »Die übersinnlichen Energien werden sich erst allmählich bis kurz vor Mitternacht steigern. Dann ... ist da unten die Hölle los! Bis dahin kann dir nichts passieren. Aber wahrscheinlich wird es dir unheimlich vorkommen.«
Garveys linke Gesichtshälfte zuckte. Selbst nach all den Jahren versuchten die durchtrennten Nervenenden noch immer, gemeinsam zu reagieren. Johnny Found hatte ihm die Klinge damals bis auf den Knochen getrieben, sodass Garvey von Glück sprechen konnte, dass er überhaupt noch so etwas wie ein Gesicht hatte. »He«, meinte er, »mir ist es jetzt schon unheimlich genug!« Als er sich zwischen den Reihen leerer Zellen auf den Weg den Gang entlang machte, folgte Nathan ihm dicht auf dem Fuß.
Gleich zu Beginn des Korridors befand sich ein Lichtschalter an der Wand. Garvey knipste ihn ein-, zweimal an und aus, doch es blieb dunkel. Nathans Nackenhaare richteten sich auf. Er konnte geradezu spüren, wie sich irgendwo etwas regte, beinahe so, als fühle er eine Woge schlechter Luft vorüberstreichen, und einen Augenblick lang hielt er den Atem an. Garvey bekam nichts davon mit. Er ging weiter, Nathan dagegen hielt sich ein bisschen zurück und konzentrierte sich darauf, ob er noch etwas spürte. Garvey stand vor der Tür zum Leichenschauhaus und klapperte mit den Schlüsseln.
Schließlich bekam er die Tür auf und trat ein. Nathan machte Anstalten, ihm zu folgen. Die beiden waren keine zwanzig Schritte voneinander entfernt.
»Was zum Teufel ...?«, fragte Garvey mit bebender Stimme. Hallend wurde sie zu Nathan zurückgeworfen und noch vorne im Revier bekamen Trask und Smart es mit. »Ich dachte, hier unten sei ... niemand!? « Das letzte Wort war nur noch ein Keuchen. Als Nathan die Tür erreichte, kam Garvey ihm bereits entgegen, das Gesicht weiß wie eine Wand.
Trask und Smart rannten, so schnell sie konnten. Ihre Füße polterten über die Fliesen. »Was ist los, Paul?«, stieß Trask heiser hervor, seine Stimme rau wie ein Reibeisen.
Garvey wedelte mit der Hand in Richtung der weit offenen Tür zum Leichenschauhaus. »Da drin! Die Kühlfächer sind auf dem Boden verstreut und überall liegen Leichen herum, die meisten in den groteskesten Stellungen. Jemand hat die Aktenschränke in der Ecke umgeworfen. Aber die Leichen ... Sie wollten ... Sie wollten ... «
Nathan warf einen Blick in Garveys Bewusstsein, las seine
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