Totenbeschwörung
hinüber und bemerkte, wie abgespannt er aussah. Und nicht nur er, auch Nathan wirkte mitgenommen. Seine Kleider schlotterten nur so an ihm. Trask hätte wetten mögen, dass Nathan gut sieben oder acht Pfund an Gewicht verloren hatte. Trask wandte den Blick wieder zu Smart.
»John Scofield muss sich völlig verausgabt haben, um so eine Show hinzulegen. Aber das war erst der Anfang! Im Augenblick wird er sich erholen und neue Kräfte sammeln. Das große Finale kommt erst um zwölf!«
Paul Garveys Miene blieb ausdruckslos wie immer: »Und wenn wir wieder in eine Zeitverwerfung geraten? Was dann?«
Trask zuckte die Achseln, was er jedoch keinesfalls abschätzig meinte. »Sag du es mir!«
Nathan trank seinen Kaffee aus, erhob sich und warf einen Blick in die Runde. »Um ein Haar hätte es geklappt! Beinahe hätte ich Kontakt zu den zahllosen Toten gehabt. Ich muss noch einmal mit Keenan Gormley sprechen und über ihn mit der Großen Mehrheit. Auch mit John Scofield! Gerade mit ihm! Aber dazu brauche ich Ruhe und muss allein sein. Mir bleibt nur eine Stunde ...«
Trask war aufgesprungen. »Du willst noch mal da hineingehen?«
Nun war es an Nathan, die Achseln zu zucken. »Da drin ist es nun mal, Ben. Wie hast du es gleich genannt? Das ... Epizentrum? Was immer uns erwartet, es kommt von da drin! John Scofield ist dort. Seine Frau und sein Sohn auch, und sie sind endlich bereit zu akzeptieren, was mit ihnen geschehen ist. Sogar Tod Prentiss hält sich irgendwo da drin versteckt. Und zu guter Letzt ist die Große Mehrheit endlich dazu bereit, mit mir zu reden. Sie brauchen mich. Wenn ich je zurück zur Sonnseite gelangen will, brauche ich sie ebenfalls. Es führt kein Weg daran vorbei. Ich muss noch mal rein!«
Trask setzte zu einer Erwiderung an, verstummte jedoch. Sein Blick wanderte zu dem elektrischen Wasserkocher, in dem Smart das Wasser für den Kaffee aufgesetzt hatte. Der Stecker steckte nicht in der Steckdose, trotzdem fing das Wasser an zu kochen. Garvey starrte wieder auf seine Armbanduhr. Mit weit aufgerissenem Mund zeigte er sie den anderen: Der Sekundenzeiger umkreiste wie verrückt das Zifferblatt!
Nathan rannte die Stufen zu dem gefliesten Gang hinab und weiter zum Leichenschauhaus. Er wollte nicht wieder hineingehen, aber er musste! Zu viel hing davon ab – die Ruhe und der Frieden sowohl der Lebenden als auch der Toten gleich zweier Welten. Kaum hatte er das Leichenschauhaus betreten, fiel hinter ihm die Tür ins Schloss.
PRENTISS!, erscholl John Scofields Donnerstimme in seinem Geist. TOD PRENTISSSS! Nathan kam schlitternd zum Stehen. Die Härchen in seinem Nacken richteten sich auf. Blau leuchtender Dunst erfüllte den Raum und Scofields telekinetische Aura war in dem mitternächtlichen Leichenschauhaus beinahe greifbar.
»Ich bin nicht Prentiss«, stieß Nathan hervor. »Ich heiße Nathan. Nathan Keogh. Warum hörst du denn nicht auf die Toten, John? Sie können dir sagen, wer ich bin. Warum hörst du nicht auf Sir Keenan Gormley? Er leitete das E-Dezernat vor der Zeit, als sie dich rekrutierten. Er war ein Freund meines Vaters und nun ist er der meine. Das weiß ich deshalb, weil ich mit ihm zu reden vermag, genau wie mit dir. Ich weiß es, weil ich ein Totenhorcher bin. Willst du mir etwas zuleide tun, John? Dem einzigen Freund, der dir in der Welt der Lebenden noch geblieben ist?! Dem Sohn des Mannes, der die zahllosen Toten lehrte, sich in ihren Gräbern miteinander zu verständigen?«
Scofield ging gar nicht auf Nathans Worte ein. DU KANNST DICH NICHT VERSTECKEN, WO DU AUCH HINGEHST – ICH WERDE DICH IMMER FINDEN. VERBIRG DICH VOR MIR, RÜHRE DICH NICHT, GIB KEINEN MUCKS VON DIR UND SCHOTTE DEINEN GEIST AB – ICH WERDE DICH TROTZDEM AUFSPÜREN. SO WIE JETZT! DU KANNST MIR VORMACHEN, DU SEIST IRGENDEIN ANDERER, WIE DIESER KEOGH! ABER ICH DURCHSCHAUE DICH. DU KANNST NÄMLICH GAR KEIN ANDERER SEIN, TOD PRENTISS! ICH HABE DIE ZAHLLOSEN TOTEN AUSGESPERRT, DAMIT SIE SICH NICHT EINMISCHEN KÖNNEN. UND DIE EINE STIMME, DAS EINE ABSCHEULICHE WESEN, NACH DEM ICH SUCHE, BIST DU! INMITTEN DER GROSSEN MEHRHEIT ACHTE ICH NUR AUF EINE EINZIGE STIMME – DIE DEINE! UND DARUM ... WEISS ICH ... WER ... DU ... BIST ... TOD PRENTISS!
Risse taten sich im Boden auf. Ein tiefes Grollen erschütterte den ganzen Raum und der Boden brach Nathan unter den Füßen weg, sodass er nur noch auf einem schmalen, abbröckelnden Vorsprung gefliesten Mauerwerks stand. Zugleich wuchsen die Wände immer weiter in die
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