Totenbeschwörung
ihre Figur betonenden Rock, dazu ein modisches, von einem einzigen Knopf zusammengehaltenes Bolerojäckchen mit weit geschnittenen Schultern über einer Chiffonbluse mit einem bis zum Nabel reichenden Ausschnitt. Ihr Dekolleté stach einem geradezu ins Auge, und unter dem hellblauen Chiffon zeichneten sich dunkel ihre Brustwarzen ab. Falls sie vorhatte, irgendjemanden abzulenken, war ihr mit Sicherheit Erfolg beschieden. Die ESPer waren bestrebt, sich nicht allzu unhöflich zu geben, ertappten sich während des Gesprächs jedoch immer wieder dabei, wie sie den Blickkontakt mit Tzonov suchten, um ihre posthypnotische Abschirmung aufrechtzuerhalten. Bereits nach kurzer Zeit spürte Trask, dass Siggi den Versuch, ihre Gedanken zu lesen, aufgegeben hatte.
Um allerdings ganz sicherzugehen, lächelte er ihr zu und sagte: »Hier ist es vielleicht kalt! Aber zum Glück haben wir ja Sie! Wenn man Sie so ansieht, wird es einem gleich ein paar Grad wärmer!« Das Kompliment war als Höflichkeit gedacht, der Gedanke, den er ganz bewusst im Stillen hinzufügte, dagegen nicht: Gott, was würde ich für eine Nummer mit dir geben!
Immer noch lächelnd machte er sich darauf gefasst, jeden Moment eine Ohrfeige zu bekommen. Stattdessen erwiderte sie jedoch das Lächeln, neigte den Kopf ein wenig und sagte: »Oh, danke sehr, Ben!«
Ansonsten wurde während des Essens nicht viel gesprochen. Wie die Unterkunft auch, entsprach es nicht gerade dem Ritz! Dennoch vermutete Trask, dass sich irgendein armer Koch der Roten Armee dafür ganz schön ins Zeug gelegt hatte. Das Fleisch zum Beispiel ließ sich problemlos schneiden, auch wenn man nicht genau feststellen konnte, worum es sich eigentlich handelte, und anstelle einer Flasche unzureichend gefilterten »Quellwassers«, wie es einem heutzutage in den meisten russischen Städten vorgesetzt wurde, gab es eisgekühlte Coca-Cola.
»Die Qualität unserer Speisestandards hält mit unserer ökologischen Entwicklung Schritt«, verkündete Tzonov beinahe unbeteiligt. Oder sollte es womöglich eine Entschuldigung sein?
Alles dank westlicher Hilfe, dachte Trask. Das behielt er allerdings für sich. Es brachte nichts, den Stolz des Russen noch mehr zu verletzen. Tatsache war jedoch, dass das Gebiet der UdSSR ohne die Unterstützung aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA wie ein waidwundes Tier schon längst seinen Verletzungen erlegen wäre. Wie die Dinge standen, hatten sie den gefährlichsten Reaktor bereits stillgelegt und die gröbsten Auswirkungen der Umweltverschmutzung in den Griff bekommen. Die sibirischen Wälder und ihre Tierwelt hatten sich erholt, und selbst in der sogenannten Aralwüste war der Grundwasserspiegel fast wieder auf seinem früheren Niveau. Man brauchte nur Anna Marie English zu fragen, und sie würde einem voller Begeisterung eine ganze Liste weiterer kleiner Wunder aufzählen.
Trask aß nur wenig von dem ziemlich fade schmeckenden Pudding, und Goodly rührte den seinen kaum an. Mehr als einen Löffel nahm er nicht davon zu sich. Die Russen machten sich noch nicht einmal diese Mühe. Schließlich gähnte Tzonov und sagte: »Ich schlage vor, wir gehen zu Bett. Morgen haben wir einen anstrengenden Tag vor uns, und wir sollten zusehen, dass wir genügend Schlaf bekommen. Ich persönlich bekomme hier unten fast Platzangst. Ich stelle mir gern vor, ich wäre draußen im Freien, in einem Obstgarten und würde die Pflaumen zählen. Damit schläft es sich leichter ein. Versuchen Sie es doch mal!«
Goodly warf ihm einen Blick zu, und ohne auf Tzonovs Ratschlag zu achten, sagte er nur ein einziges Wort: »Morgen?« Das Bewusstsein hinter den grauen, eingefallenen Wangen und den tief liegenden Augen des Hellsehers schien unnatürlich leer, und seine Stimme klang hohl, als er fragte: »Lassen sie ihn dann frei?«
Der Leiter des russischen E-Dezernats gähnte abermals, und zwar genauso unecht wie beim ersten Mal. Trask registrierte dies und tat es mit einem innerlichen Achselzucken ab. Wahrscheinlich suchte Tzonov nur einen Vorwand, mit Siggi allein zu sein. Wer konnte ihm das schon verdenken? Doch dann, noch während der Koch kam, um das Geschirr abzuräumen, fühlte Trask sich auf einmal ungewöhnlich müde. Und mit einem Mal wurde ihm klar, warum ihm sein Pudding nicht geschmeckt hatte.
Anschließend hatte er Mühe, sich mit Goodly in die Unterkunft zu schleppen. Sie schafften es noch bis in ihre Betten, ehe es dunkel um sie wurde. Goodlys Frage nach dem
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