Totenblick: Thriller (German Edition)
erwischt, und er rannte hinaus, um sich zu übergeben.
Es blieben noch die Darstellung einer fliehenden Frau auf der rechten Bildseite, wo eine Feuersbrunst mit hellen Farben symbolisiert war, sowie die Leiche einer verbrannten Frau in einem gemalten Haus.
Der Täter hatte sich sogar die Mühe gemacht, die Deckenlampe des Gemäldes durch ein sehr ähnliches Modell in die Realität zu übertragen.
Dann hatte es Rhode erneut erwischt, und er musste wieder raus. Jetzt stand er im Freien, den üblen Geschmack von Erbrochenem im Mund und kein Pfefferminz zur Hand. Kein Gegenmittel gegen das Grauen im Kopf.
Jemand kam über die Stufen herunter zu ihm, ein Schatten fiel auf ihn.
Rhode öffnete die Augen und sah Konstantin Korff vor sich stehen.
Er trug wie immer sein schwarzes Polohemd, Sakko und Stoffhosen, darunter die klobigen 3-Loch-Schuhe. Die Kälte schien ihm nichts auszumachen. »Es kann Ihnen nichts passieren«, sagte er freundlich. »Ich war der Erste am Tatort und habe alle Blicke der Toten auf mich gezogen. Wie ich bereits andeutete: Wir Bestatter stehen mit dem Tod gut. Ich fürchte mich nicht vor ihm.«
»Danke«, sagte Rhode und fand es gleichzeitig albern. »Aber das wäre nicht nötig gewesen. Es gibt keine Mystik der gebrochenen Augen und auch keinen übersinnlichen Fluch, sondern einen Wahnsinnigen, der Morde begeht und sie als Unfälle tarnt. Sie werden Polizeischutz brauchen, Herr Korff.«
»Werde ich nicht. Ich verlasse mich auf den Gevatter.«
Rhode musterte den Bestatter; er war mutiger als die meisten Männer, die er kannte.
Korffs Erscheinen als Erster am Tatort verdankte er jener Liste, auf der die Gegenmaßnahmen zum Totenblick festgehalten waren und die sich unter den Streifenpolizisten verbreitet hatte. Auf jener Liste stand für Rückfragen auch die Nummer des Ars Moriendi.
Der Ablauf war danach folgender: Nach dem Anruf des Mörders unter der Notfallnummer hatte jemand aus dem Streifendienst unverzüglich Korff angerufen und um Rat gebeten. Kurzerhand war der Bestatter selbst hergefahren und im Schutzanzug mit Plastiküberziehern an den Schuhen hineingegangen. Als Bestatter verfügte er über die notwendige Ausrüstung. Korff hatte jeder Leiche in die Augen gesehen und ihnen danach die Lider geschlossen. Der Totenblick war entschärft.
Rhode wusste auch, was die verstrichene Zeit für die Hinweise in den Augen der Opfer bedeutete: Für das Bewahren des Optogramms war es gewiss längst zu spät. 15 Minuten, mehr Spielraum gab es nicht. Das hatte der Täter stets unterstrichen. »Sie bekommen Schutz vor einer Person, nicht vor dem Schnitter.«
»Ich will keinen. Das würde den Beerdigungen, die ich begleite, zwar einen gewissen VIP-Touch verleihen, wenn Männer oder Frauen mit Knopf im Ohr auf dem Friedhof herumstünden, aber das geht nicht. Ich habe einen sehr guten Ruf, den ich nicht verlieren möchte.« Korff blickte auf die Faust des Hauptkommissars, aus der die Ecken des Briefs ragten. »Ich hoffe, ich habe keine Spuren vernichtet? Ich habe es nur mit einer Pinzette angefasst.«
Rhode hob den Brief leicht an. »Haben Sie nicht. Sie waren vorsichtig, wie mir die SpuSi sagte.« Er sah den Mann an, der ihm auch bleicher vorkam. »Gelesen?«
»Nein. Nur aufgemacht und gesehen, dass Ihr Name in der Anrede stand. Deswegen rief ich Sie sofort an.«
»Mhm.« Rhode überlegte, ob er den Bestatter die Botschaft lesen lassen sollte, entschied sich aber dagegen. »Sie sind doch Thana… Leichenpräparier.«
»Thanatologe, Herr Rhode, ist die korrekte Bezeichnung. Sie sind ja auch kein Verbrechensschnüffler. « Korff lächelte süffisant.
»Sie haben die Leichen aus nächster Nähe gesehen: Ist das die Arbeit eines Fachmanns?«
»Er ist jedenfalls kein professioneller Thanatologe oder Präparator. Er hat sich bemüht, möglichst gute Resultate bei den Deformierungen der Leichen abzuliefern, damit sie den Figuren von Guernica möglichst ähnlich sind. Ich habe Reste von Bauschaum gesehen, die zwischen den Nähten hervorquollen. Eine clevere, aber sehr unelegante Lösung«, lieferte Korff seine Expertise. »Mir ist aufgefallen, dass er mit zeitlichen Abständen an den Leichen gearbeitet hat. Sie waren eingefroren, wurden aufgetaut und bearbeitet, wieder eingefroren. Gerade an den Tierkadavern sieht man es deutlich. Der Stier ist nach wie vor komplett durchgefroren.« Er fuhr sich mit den Fingern am Kinn entlang. »Die einzigen frischen Leichen in dem kranken Werk sind die Mutter mit
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