Totenblick: Thriller (German Edition)
Vorfreude. Die behandschuhte Rechte packte Armins Kinn, drückte den Kopf nach rechts, nach links. »Diese Ähnlichkeit. Frappierend. Wenn auch etwas jung. Doch Besseres findet sich nicht.«
Armin sah, dass das riesige Auge aus vielen kleinen, etwa einen Zentimeter großen Bildchen bestand, die akribisch nach Farbton und Motiv ausgesucht waren. Aus der Entfernung fügten sie sich mosaikgleich zu einem Auge zusammen.
Seine Pupillen zuckten suchend hin und her. Was genau auf den einzelnen Miniaturfotos abgebildet war, konnte Armin nicht genau erkennen, aber eines schien aus einem Krieg zu stammen. Nein, eher von einer Hinrichtung: Ein asiatischer Soldat tötete einen zivilen Landsmann aus nächster Nähe mit einer an der Schläfe aufgesetzten Waffe.
»Solltest du versuchen zu flüchten, verspreche ich dir die schlimmsten Schmerzen, die man erdulden kann, ohne zu sterben. Glaub mir, ich kann das. Ich habe viel gesehen und viel getan.« Der Mann erhob sich. »Entspann dich. Ich mache dich unsterblich. Unsterblicher, als es deine Klavierkunst jemals hätte tun können. Abgesehen davon wirst du überschätzt. Beim letzten Konzert hast du dich zweimal verspielt.« Er intonierte mit daa-dada-daa-dadadada-daaa einen Klavierlauf, seine Hände spielten auf imaginären Tasten, bis er abrupt innehielt und sich mit dem linken Zeigefinger gegen das Ohr tippte. »Ich kann das hören. Oh, ja, ich kann das hören.«
Armin erkannte die Stelle im Stück wieder – und begriff, in welcher Lage er sich befand: Er war in die Hände eines verrückten Fans gefallen!
Von aggressiven Stalkern oder fanatischen Anhängern stand öfter was in den Medien zu lesen. Nun hatte es ihn erwischt. Es waren schon erfolgreiche Romane über Szenen wie diese geschrieben worden, nur dass er sich mittendrin befand.
»Ist das meine Strafe?« Vielleicht ließ sich der Mann beschwichtigen. »Ich … will mehr üben, und ich spiele es Ihnen noch einmal vor! Ich kann es besser! Wirklich!« Er schluckte, hustete. »Bitte, geben Sie mir …«
Der behandschuhte Zeigefinger schwenkte vom Ohr weg und richtete sich auf die Maske. »Du hast in das Auge des Todes gesehen und den Totenblick empfangen. Denkst du, es ginge schadlos an dir vorüber?« Lachend schlurfte der Entführer zur Wanne, sah hinein und begab sich an den Beistelltisch, vor dem er niederkniete und das Tintenfass aufschraubte.
Armin zitterte vor Kälte und Angst.
Als er die hingebungsvollen Bewegungen sah, mit denen sein Entführer mittels Federkiel auf das Blatt Papier schrieb, wusste er, dass er nicht lebend aus dem Raum gelangen sollte. Diese Maske, beklebt mit vielen Einzelbildern und ein übergroßes Auge formend, das halbfertige Zimmer, die Staffage, die Bewegungen des Mannes verliehen der Szenerie etwas Surreales.
Sein Überlebenswille erwachte.
Behutsam, um den Verrückten nicht auf sich aufmerksam zu machen, rutschte Armin in Richtung der abgedunkelten Fenster.
***
Kapitel 2
Leipzig, Zentrum-Ost, 17. Oktober
K riminalhauptkommissar Peter Rhode lief die wacklige Treppe des maroden Hauses in der Gorkistraße mit viel Elan hinauf. Der leichte graue Mantel wehte, die dunkelblauen Hosenbeine schlackerten. Er trug gerne Anzüge, auch wenn der Außendienst seinen Tribut vom Stoff forderte, aber als Leiter einer Ermittlungsgruppe fand er, dass er das seiner Stellung schuldig war.
Seine Pille wirkte noch nicht, das ADHS machte ihn aufgekratzt und übermotiviert, was nicht das Schlechteste war, wenn es darum ging, Kleinigkeiten an einem Tatort zu erfassen. Doch dabei schlichen sich leider auch Fehler ein. Er bemerkte viel und vergaß es auch gleich wieder, weil ein anderes Detail interessanter erschien.
Seine jüngste Tochter hatte ihn mal mit dem überhektischen Eichhörnchen Hammy aus dem Film Ab durch die Hecke verglichen. Seitdem trank er keine Cola mehr. Nach der Diagnose einer zusätzlichen Stoffwechselstörung fiel er sowieso aus allen gängigen Mustern zur Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndroms.
»Morgen.« Rhode nickte dem dunkelblau uniformierten Beamten zu, der am Eingang der Wohnung stand und Wache schob. Einen Ausweis musste er nicht zeigen, man kannte sich flüchtig von einem anderen Tatort. Rosenthaler oder so ähnlich hieß er.
»Morgen, Herr Rhode.« Der Kollege tippte sich gegen den Mützenschirm und wies gleich darauf mit dem Daumen in den Raum hinter ihm. »So was haben Sie noch nicht gesehen.«
»So schlimm?« Mit einer knappen Geste
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