Totenblick: Thriller (German Edition)
du bist der Ermittler, Rhode, aber wenn du mich fragst, rief der Mörder sogar schon vor der Tat an.« Er zeigte auf die Seiten in Schwedts Hand. »Seite vier ist spannend. Danach will ich die Blätter wieder zurück.« Rückwärtsgehend entfernte er sich, nahm den Anruf entgegen. »Ja?«
Rhodes Hoffnung, dass der SpuSi sich mit Namen meldete, wurde enttäuscht. Er ärgerte sich maßlos über diese Erinnerungslücke. Ein einziger Buchstabe würde ausreichen, und es fiel ihm wieder ein. »Wieso?«
Der SpuSi hielt die Sprechmuschel zu. »Was wieso? «
»Wieso ist Seite vier spannend?«
»Auf den anderen steht nur französisches Zeug, aber Seite vier ist auf Deutsch verfasst. In einer anderen Handschrift. Ich weiß nicht, wer von den Streifenkollegen den Toten gefunden hat, aber ihr solltet denen Bescheid sagen.« Der Stein-Farben-Namen-Mann nahm eine Thermoskanne aus der abgestellten Arbeitstasche. »So. Ich brauche einen Kaffee.« Dann ging er telefonierend hinaus.
Rhode verzog den Mund. »Bescheid geben?«
Schwedt nahm den ersten Brief und las vor. » Du 13 juillet, 1793. Marieanne Charlotte Corday au citoyen Marat. II suffit que je sois malheureuse pour avoir droit à votre bienveillance. «
»Aha«, machte er. Aus ihrem Mund klang es sehr schön, auch wenn er den Inhalt nicht verstand. Französisch gehörte nicht zu den Sprachen, die er beherrschte. Russisch hatte man damals lernen dürfen. Und Spanisch. Für den Besuch bei befreundeten Völkern. »Was heißt das?«
»Frei übersetzt …«, sie grübelte, »… 13. Juli 1793. Marieanne Charlotte Corday an den Bürger Marat. Es genügt, dass ich unglücklich bin, um ein Recht auf Ihr Wohlwollen zu haben.« Sie blätterte weiter. »Auf dem steht … Vous donnerez cet assignat à la mère de cinq enfants dont le mari est mort pour la défense de la patrie … Ist ein Testament. Irgendwas mit Übergeben an eine Mutter von fünf Kindern. Marat … war das nicht Französische Revolution?« Schwedt hatte schon wieder ihr Smartphone in den Fingern.
Rhode betrachtete den Toten und wunderte sich ein wenig zu spät darüber, dass er Brief und Utensilien hatte halten können. Diese Unkonzentriertheit machte ihn verrückt. Er musste gleich beim Kollegen mit dem Stein-Farben-Namen nachhaken, sobald dieser von der Kaffee-Telefonat-Pause zurückkehrte. »Wie hieß er noch gleich, Anke?«
»Wer?«
»Der Chef der SpuSi-Truppe.«
»Weißenberg. Erich Weißenberg.«
»Sicher! Erich.« Er schüttelte leicht den Kopf und wunderte sich. Die Finger drückten fester gegen den worry stone, als würde es gegen die Nachlässigkeit helfen.
»Hast du das mal untersuchen lassen? Die Erinnerungsaussetzer?«
»Ich glaube, die Pille wirkt noch nicht«, flüchtete er sich in eine Ausrede.
»Scheint so. Du härtest gegen das Zeug ab. Oder nimmst du noch was anderes, Chef?«
Ihr Smartphone gab ein leises Pfeifen von sich und lenkte sie glücklicherweise von dem unschönen Thema ab.
Schwedts Gesicht hellte sich auf. Sie hob die Augenbrauen, und die kleine Narbe an ihrer linken Schläfe zuckte in die Höhe. »Der Tod des Marat«, las sie vom Display ab. »Gemalt von Jacques-Louis David im Jahr 1793 im klassizistischen Stil in Öl auf Leinwand. 162 mal 128 Zentimeter.« Sie hielt es ihm hin. »Das Internet als moderne Ermittlungshilfe.«
Rhode sah vergleichend hin und her.
Es gab nicht den Hauch eines Zweifels, dass der Mörder sich an einer Realkopie der berühmtesten Darstellung von Ereignissen der Französischen Revolution versucht hatte. Der junge Mann vor ihm sollte Marat darstellen. Er glich ihm sogar, wenn man mal vom Alter absah.
Es blieb jedoch ein gravierender Unterschied: Ihre Leiche hatte die Augen weit geöffnet.
Ein Fauxpas?
Ein Zufall?
Pure Absicht?
»Scheiße«, entfuhr es Rhode, und er blickte Schwedt an: Sie dachte das Gleiche wie er. Sie jagten einen Mörder mit einem ausgeprägten Spleen und mit einem hohen Geltungsbedürfnis. Und beide befürchteten stumm, dass es nicht die letzte Leiche war, die sie in Leipzig fanden und die in irgendeiner besonderen, pervers-kunstvollen Weise drapiert war.
»Okay. Sobald wir wissen, wer der Junge in der Wanne ist, prüfen wir, ob es Anhaltspunkte zwischen ihm und dem historischen Marat gab, ob das Opfer eine Marieanne oder Charlotte oder jemand namens Corday kannte. Vielleicht ist er Schauspieler im Centraltheater oder bei einer anderen Bühne. Prüf mal bitte, wer gerade ein Stück über die Französische
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