Totenblick: Thriller (German Edition)
und Zeitung lagen. Charlotte nahm dreißig Cent aufwärts, aber dafür waren ihre Produkte alle selbstgemacht und ohne fertige Backmischungen hergestellt. Welcher Bäcker hatte heute noch eigenen Sauerteig auf Lager?
Charlotte war schräg und unkonventionell. Mitunter dachte sie sich nicht minder schräge Rezepte und Kuchen aus, wie die »Leipziger Leiche« in Anlehnung an das bekannte Backwerk namens »Leipziger Lerche«. Auch die »Räbchen« sahen bei ihr anders aus und erinnerten an Miniaturraben, schmeckten jedoch grandios.
Sie schenkte ihm vor etwas mehr als zwei Jahren eine »historisch-mystische Stunde mit Mariann Flatow«, wie auf dem Gutschein stand. Ein solcher Einfall passte zu Charlotte.
Ares zog den Zipper seines schwarzen Hoodys hoch. Er hatte gehofft, dass Flatow vielleicht in der Zwischenzeit umgezogen oder verstorben war, aber es gab sie noch. Er kam um die Peinlichkeit nicht herum.
Er betrat den schäbigen Durchgang, von dem ein gepflasterter Weg geradeaus in den richtigen Hof führte; rechts ging eine Tür ab zu einem abgesonderten Treppenhaus.
Wieder summte es, und er öffnete den Eingang.
Da es keinen Fahrstuhl gab, eilte Ares die Stufen hinauf und betrachtete es als kleines Zwischen-Workout, das ihn nicht anstrengte. Er war härtere Programme gewohnt. Die Stiegen ächzten leise unter seinen grauen Turnschuhen.
Er nahm den leichten Feuchtigkeitsgeruch wahr, der ihn umwehte. Das Haus müsste dringend saniert werden, die alten Steinwände hatten sich voll Wasser gesogen. Vermutlich besaß der Investor kein Interesse daran, Instandsetzungen vorzunehmen, und hoffte auf einen raschen Auszug seiner Mieter, um das Gebäude danach abzureißen und etwas Einträglicheres wie etwa ein Parkhaus hinzustellen.
Die leicht korpulente Mariann Flatow erwartete ihn bereits an der übergroßen Wohnungstür, wie sie typisch für einen Altbau war. »Ich grrrüße Sie, Cherr Löwenstein!«
Er schätzte sie auf Mitte 60. Sie hatte die silbergrauen Haare leicht antoupiert und trug eine moderne Oma-Kombination: hellbeige Hose, darüber eine fliederfarbene Bluse und eine leichte blassrote Strickjacke. Beim Anblick der Bluse musste Ares an Tzschaschels Sportoutfit denken.
Um ihren erstaunlich faltenfreien, aber wabbligen Hals lag eine Bernsteinkette, an ihren Fingern zählte er sieben dazu passende Ringe. Schon auf dem Treppenabsatz überrollte ihn eine Parfümwelle, die an alten Stoff, besprüht mit Kölnisch Wasser, erinnerte.
»Hallo, Frau Flatow.« Ares fand ihren leicht russischen Akzent charmant. Er schüttelte ihre Hand und hatte sich sofort mit ihrem Geruch angesteckt.
»Chat es eendlich geklappt mit uuns beiden.« Sie bat ihn herein. »Sind Sie neugierig?«
»Bin ich.« Vor allem auf ihre Reaktion, wenn sie an ihm scheiterte. Er schritt an ihr vorbei. »Wohin darf ich?«
»Wochiin Sie wollen, Cherr Löwenstein. Sie mussen sich wohl fuhlen.« Flatow legte die Fingerspitzen zusammen und wartete lächelnd ab.
»Aha.« Ares verspürte keine Lust, ihre Wohnung zu durchstreifen, die vollkommen von ihrem Parfümgeruch getränkt war. Daher wählte er die erste Tür, die nicht nach Badezimmer aussah, und betrat den Raum dahinter.
Er fand sich in einem leicht abgedunkelten, hohen Zimmer wieder, das als Salon fungierte und aus dem 19. Jahrhundert zu stammen schien, so als habe jemand 1895 bei seinem Auszug vergessen, die Einrichtung mitzunehmen.
Stofftapeten mit weiß-rotem Längsmuster, Stuck, ein hoher dunkler Schrank mit Kristallgeschirr, Glasvitrinen mit Porzellantellern, Schubladen, in denen sicherlich Silberbesteck deponiert war. Eine Anrichte mit zwei Kerzenleuchtern, ein Beistellwagen mit verschiedenen alkoholischen Getränken, eine Sitzgruppe, ein offener Kamin mit einer Chaiselongue davor, riesige Fenster mit langen Vorhängen, die das Tageslicht schluckten. Über allem schwebte ein schwerer Kronleuchter mit einzeln herabhängenden Kristallteilen, die durch den Luftzug ins Pendeln gerieten und leise klirrend gegeneinandertickten.
Flatow schob sich an ihm vorbei. »Sehr schön, Cherr Löwenstein«, sagte sie und zog einen Sessel an die Chaiselongue heran. »Kommen Sie. Machen Sie es sich bequämm. Es geht glaich los. Ich chole noch mein Pändel.« Sie huschte hinaus.
Ares sah auf die Bilder an der Wand, die Landschaftsmalerei aus der Romantik zeigten, darunter zwei Repliken von Caspar David Friedrichs bekannteren Werken, dann zwei Familienporträts, von denen niemand Mariann Flatow glich, und
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