Totenblick: Thriller (German Edition)
werde ich eines Tages vor dir stehen und dich daran erinnern, dass du mir etwas schuldest. Na? Schulden oder sterben?«
Sofort hob Ares die Faust zum Schlag …
… und konnte die Attacke in letzter Sekunde abbrechen: Er hatte die Gestalt erkannt, die ihn besorgt im schwachen Schein des Leselichts anblickte. Sonst hätte er ihr locker den Kiefer gebrochen.
»Ares?«
Er starrte sie an, blickte sich um, hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Die Mauer war weg, die Pfütze, der Mann mit dem Messer – all das hatte niemals existiert. Er war eingeschlafen und hatte geträumt. Einen verdammt echten Traum.
Nancy nahm behutsam sein Gesicht zwischen ihre warmen, weichen Hände. »Was ist, Ares? Du warst nicht wach zu kriegen.«
Er pumpte schwer, rang nach Luft. »Brauche einen Schluck Wasser«, sagte er und stemmte sich aus dem Sofa, wobei er Nancy höchst unsanft zur Seite schleuderte.
Ares tapste unsicher ins Bad. Schlaglichtbilder blitzten unterwegs in seinem Verstand auf, die fremd und doch real wirkten. Wie schon einmal erlebt.
Tatsächlich hatte er alles erlebt und es vergessen wollen. Schmobi lenkte seine Erinnerung nicht auf Dauer ab, der Wein diktierte ihm einen hässlichen Traum.
Er drehte das eiskalte Wasser auf und schöpfte sich mehrere Hände, trank es, goss es über die Glatze, über seinen Nacken und den Oberkörper.
Schließlich wagte er es, ganz langsam den Blick zu heben und sich selbst im Spiegel zu betrachten.
Ares sah nur sich selbst, obgleich er befürchtet hatte, einen anderen hinter sich zu erkennen.
Er schluckte, rieb die Tropfen von den Wangen und näherte sich der reflektierenden Oberfläche.
»Was war denn, Ares?«, fragte Nancy hinter ihm.
Und seit langer Zeit, wirklich sehr langer Zeit zuckte er wieder zusammen. Vor Schreck. Das war ihm als Kind das letzte Mal passiert.
»Ich habe … wohl was Falsches gegessen«, antwortete er und umarmte sie erleichtert, als sich die zierliche Frau an ihn schmiegte. Nancy würde es nicht spüren, aber dieses Mal gab sie ihm Halt und nicht umgekehrt.
Ares atmete tief durch und konnte nicht leugnen, dass er sich »bäsonders fuhlte«.
Das bedeutete: Morgen würde Frau Flatow Besuch von ihm bekommen. Ares hatte keine Lust, Spielball seines von ihr manipulierten Unterbewusstseins zu bleiben. Hätte er den Schlag vorhin gegen seine Gefährtin zu Ende gebracht, läge sie mindestens mit gebrochenem Kiefer im Krankenhaus. Er hätte sie damit sogar töten können. Wegen eines sehr real wirkenden Traums und Erinnerungen an die Vergangenheit.
Flatow musste die negativen Auswirkungen der fehlgeschlagenen Rückführung rückgängig machen, und zwar gleich morgen. Und er würde Recherchen in Gang setzen. Pitt konnte ihm helfen.
»Lass uns ins Bett gehen«, sagte er zu Nancy.
»Ist recht, mein Krieger.« Sie nickte und küsste ihn sanft auf den Mund.
Und erst da war er sich sicher, wieder in der Realität gelandet zu sein.
***
Kapitel 6
Leipzig, Südvorstadt, 11. November
D olores rannte über das holprige Steinpflaster.
Sie wollte die Tram in Richtung Innenstadt bekommen, weil sie ein Date hatte, aber vor lauter Plaudern mit ihren Freundinnen war sie zu spät aus dem kleinen Restaurant in der Körnerstraße gekommen.
Jetzt hetzte die 20-Jährige über den Bürgersteig, um zur KarLi zu gelangen. Die flachen Sohlen der hochschaftigen, schwarzen Winterstiefel gaben ihr genug Halt. Die dünne, puderzuckerartige Schneeschicht bedeutete keine Gefahr. Wenn sie noch etwas mehr an Geschwindigkeit zulegte, könnte sie die nächste Tram am Südplatz erwischen. Keinesfalls wollte sie zu spät bei Yannick auftauchen.
Sie fand ihn attraktiv, und nach dem heutigen siebten Treffen würde sich entscheiden, ob etwas zwischen ihnen lief oder ob es bei anregenden Gesprächen blieb.
Der kommende Kuss war entscheidend. Es kam immer auf den Kuss an, wie ihr Papa zu ihren Teenagerzeiten bereits sagte, und er hatte recht behalten. Damit war kein gehauchtes Ding auf die Wange gemeint, sondern ein schöner, langer Kuss auf die Lippen. Behutsam, erkundend, und dann mit Zunge. Sie freute sich darauf.
Dolores atmete nur unwesentlich schneller. Ihr machte der Sprint dank ihres Trainings nichts aus, und sie würde auch nicht zu sehr ins Schwitzen geraten. Das wäre ein No-Go bei ihrem Date gewesen.
Unter ihrem knappen grünen Kurzmantel trug sie einen weißen Norwegerpulli, auf dem dunklen Schopf saß ihre schwarze Lieblingsmütze. Ihre schlanken Beine steckten in
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