Totenblick: Thriller (German Edition)
wie sie es sich erhofft hatte.
Nach einigen Minuten dieser rabiaten Eigenbehandlung legte sie sich ein Handtuch um und eilte an den Computer zurück. Das Lesen gelang jetzt wesentlich besser – oder sie bildete es sich zumindest ein. Noch ein Schluck Wasser rann ihre Kehle hinab.
In einem ersten Reflex wollte sie nach dem Handy greifen, um Peter Rhode anzurufen und ihm von ihrer Entdeckung zu berichten.
Aber ihrem Vorgesetzten – bei aller Freundschaft – mit alkoholschwerer Zunge um zehn Uhr abends vorzulallen, dass sie eine bahnbrechende Mitteilung hatte, die wiederum die Ermittlungen in eine gänzlich andere Richtung führen würde, erschien ihr nach kurzem Innehalten als keine gute Eingebung. Morgen früh wäre dafür immer noch Zeit.
Anke seufzte schwer und sah auf ihren nassen BH. Es würde Freddy freuen, wenn sie ihm so die Tür öffnete. Mit durchsichtig gewordenem Stoff und steifen Brustwarzen. Oder sollte sie ihn rasch trocken föhnen? Sie warf einen letzten Blick auf den Monitor und ließ das Bild im Stand-by stehen, damit sie sich nach dem Aufstehen sofort daran erinnerte.
»Wie konnten wir das nicht sehen?«, murmelte sie.
DIE WAHRHEIT
LIEGT STETS
IM AUGE
DES
BETRACHTERS.
Sie hatte das Versäumnis der SoKo erkannt: Nicht nur die Lebenden betrachteten etwas – auch die Toten betrachteten! Und zwar die Menschen, die sich am Tatort bewegten.
Vielleicht ging es bei dem Spruch gar nicht darum, was die SpuSi und sie und Rhode und das KTI sahen. Folgte Anke ihrem Schluss, ergab sich die Frage: Hatte der Mörder demnach etwas in den Augen seiner Opfer verborgen?
Wäre es möglich, dass der oder die Täter den Leichen etwas in die Augenhöhlen geschoben hatten, wie einen kleinen Chip, einen kleinen Zettel, irgendetwas Winziges?
Fiele das bei der Obduktion überhaupt auf?
Sie konnte sich nicht erinnern, in ihrer Ausbildung einer Obduktion beigewohnt zu haben, bei denen die Rechtsmediziner chirurgische Kleinstarbeit erledigten.
Gab es eine Methode, Hinweise direkt in die Pupillen zu gravieren oder mit Laser zu brennen?
Das hatte sie im Internet geprüft, was sie nach dem Aufstehen sichten würde. Mit weniger Promille und mehr Vernunft im Verstand.
Ein bisschen fürchtete sie, dass sie ihre Eingebung im nüchternen Zustand einfach nur lächerlich fand. So lächerlich wie die Ergebnisse der Suchmaschine, die sie nicht hatte entziffern können.
Gerade kam der jungen Frau etwas an der Formulierung auf der Bildermorde-Website in den Sinn.
Der Killer hatte »meine aktuellen Arbeiten« geschrieben, sollte sie sich nicht zu sehr irren.
Existierten demnach alte Arbeiten?
Hatte er geübt und Probedurchgänge gemacht?
Warum waren sie dann nicht aufgefallen?
Weil die Taten nicht in Deutschland geschehen waren?
Es klingelte an der Tür.
»Sextime«, rief Anke fröhlich und ging zum Flur; ihr Wasserglas nahm sie mit und betupfte mit ein paar Tröpfchen ihren Hals und Dekolleté. »Bin gleich da. Aber ich muss dich warnen: Ich bin angetrunken und geil!« Schwungvoll öffnete sie. »Außerdem habe ich …«
Ihre Reaktion war zu langsam: Der Elektroschocker berührte ihr feuchtes Schlüsselbein und jagte hunderttausend Volt durch sie.
Das Glas zerbrach zwischen ihren verkrampfenden Fingern, die Splitter schnitten durch Haut und Fleisch, verursachten tiefe blutende Wunden.
Bewusstlos fiel Anke auf der Schwelle nieder …
***
Leipzig, Südvorstadt, 24. November
»Sie, Bürger! Bleiben Sie stehen!«
Bürger – diese Anrede kam Ares höchst ungewöhnlich und zudem noch autoritär vor, und so sah er beim Sprint über die Schulter: Ein Polizist, der gerade nichts Besseres zu tun hatte, hing ihm an den Hacken.
Sein Handy klingelte, es war Karo. »Ja?«
»Ganz toll, Papa. Du hast den Bullen den Stinkefinger gezeigt. Die standen hinter uns«, sagte sie genervt und mit dem überdrehten Tonfall, den Teenager perfekt beherrschten, wenn sie erwachsen klingen wollten. »Einer ist dir hinterher.«
»Sehe ich. Kann ich aber nicht ändern. Bis nachher.« Der Mittelfinger, den er ohne nachzuschauen an der Ampel seinem Hintermann gezeigt hatte, zog unschöne Nebenwirkungen nach sich. Beamtenbeleidigung war teurer als normale Beleidigung.
Der Verfolgte bog um die Ecke und verschwand hinter einem Gebüsch.
»Stehen bleiben, Mann! Das ist Widerstand gegen die Staatsgewalt!«, keuchte der Beamte hinter ihm.
Ares hielt tatsächlich an, aber erst nachdem er die Hecke umrundet hatte. Er hätte den
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