Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenblüte

Totenblüte

Titel: Totenblüte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
Vom Netzwerk:
ließ. Sie hatte es noch nicht über sich gebracht, die Post zu öffnen, und legte die neuen Briefe auf den Stapel ungeöffneter Umschläge neben dem Bett, der immer höher wurde.
    Den ganzen Morgen über versuchte sie, die Gedanken an Gary aus ihrem Kopf zu verbannen. Ihre Mutter schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, und versuchte sie abzulenken. Vielleicht fand sie auch einfach nur, dass Julie langsam genug Trübsal geblasen hatte und es an der Zeit war, sich am Riemen zu reißen. Julies Mutter gab nichts auf Gefühlsduseleien und hatte einen kurzen Geduldsfaden. Sie zwang Julie, zum Frühstücken aufzustehen, und ließ sie dann das Pausenbrot machen, das Laura mit zur Schule nehmen sollte. Als das Mädchen gegangen war und Julie immer noch am Küchentisch hockte und ins Leere stierte,holte ihre Mutter den Stapel mit Briefen und Karten aus dem Schlafzimmer.
    «Die musst du beantworten, Julie. Du kannst sie nicht einfach ignorieren. Das wäre schrecklich unhöflich.»
    Julie hatte sich gerade gefragt, was Gary wohl heute macht. Sie hatte doch seine Telefonnummer. Sie konnte ihn jederzeit anrufen. Sie gab sich der Vorstellung hin, dass er kam, um sie abzuholen, sie mit zur Arbeit zu nehmen. Ein dunkler Raum, flackerndes Licht und eine Rockband. Und richtig laute Musik, die alle anderen Gedanken in ihrem Kopf einfach übertönen würde. Ein stampfender Bass, den man im ganzen Körper vibrieren spürte. Dann traf das schlechte Gewissen sie erneut, und wie um Buße zu tun, setzte sie sich mit einem Becher Milchkaffee an den Tisch und öffnete die Beileidspost, wie ihre Mutter es wollte.
    Als es klingelte, spürte sie, wie ihr Puls sich beschleunigte. Gary war zurückgekommen. Ihre Mutter war oben beim Bettenmachen, rief aber zu ihr herunter: «Lass nur, ich gehe schon!» Und Julie blieb, wo sie war, zwang sich, ruhig zu atmen, und sagte sich immer und immer wieder, dass es falsch war, als trauernde Mutter an einen Mann zu denken. Dann hörte sie Vera Stanhopes Stimme, so laut, dass sie wahrscheinlich in der ganzen Straße zu hören war, und wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen.
    Vera kam in die Küche und setzte sich neben sie. «Tut mir leid, dass ich Sie störe, Herzchen. Ich habe noch ein paar Fragen.»
    Dann sah sie, womit Julie beschäftigt war, sah die einzige Karte auf dem Tisch, die sie bisher aus dem Umschlag genommen hatte. «Das ist aber hübsch. Kam das heute?»
    Erst jetzt schaute auch Julie sich die Karte genauer an. Nichts Kirchliches diesmal. Es war eine dieser edlen, handgemachten Karten, die ein Vermögen kosteten. Eine einzelnegepresste Blume auf dickem, cremefarbenem Briefkarton. Sie wollte schon danach greifen, um die Nachricht auf der Rückseite zu lesen, doch Vera hielt sie davon ab, hinderte sie tatsächlich daran, indem sie ihre große Pranke auf Julies Hand senkte.
    «Moment mal, Herzchen. Das könnte möglicherweise wichtig sein. Kam das heute?»
    «Ich weiß nicht», sagte Julie. «Ich habe es bis jetzt nicht fertiggebracht, die Post zu öffnen. Seit Freitag trudeln ständig neue Karten ein.»
    «Haben Sie den Umschlag noch?»
    «Ja, der liegt da auf dem Tisch.»
    Halb benommen sah sie zu, wie Vera einen Kuli aus der Tasche zog und damit den Umschlag umdrehte, um den Poststempel und die Adresse lesen zu können. Sie wusste nicht, was daran wichtig sein sollte, und es war ihr im Grunde auch egal. Ihr Blick wanderte zum Fenster, wo auf einem Feld in der Ferne ein Traktor seine Runden drehte.
    «Das ist ja gar nicht an Sie adressiert», hörte sie Vera sagen. «Das ging an Luke.»
    Jetzt schaute auch Julie auf den Umschlag, der weiß und nicht cremefarben war und offensichtlich nicht zu der Karte gehörte.
    Er war mit schwarzer Tinte in Druckbuchstaben beschriftet: LUKE ARMSTRONG, LAUREL WAY 16, SEATON, NORTHUMBERLAND. Keine Postleitzahl.
    Julie hob den Kopf und sah Vera an. «Das ist nicht die richtige Adresse», sagte sie. «Die Straße hier heißt Laurel Avenue, nicht Laurel Way. Der Laurel Way ist gleich hinter der Schule.» Sie begriff immer noch nicht recht, was an dieser Karte so wichtig sein sollte.
    «Sie wurde am Dienstag eingeworfen», sagte Vera. «Mit einer First-Class-Briefmarke. Wenn die Adresse korrektgewesen wäre, hätte sie am Mittwoch hier ankommen müssen.»
    «Aber wenn der Brief am Mittwoch gekommen wäre, hätte Luke ihn noch selbst geöffnet. Ich würde doch nie einen Brief öffnen, auf dem sein Name steht. Das hätte ich wohl auch heute nicht getan, wenn es

Weitere Kostenlose Bücher