Totenbuch
Auto angefasst«, flüstert er in eindringlichem
Ton.
Lucy betrachtet die beiden Jungen und ihre kranke
Mutter, steuert auf ihr Auto zu und entriegelt es per Fernbedienung. Die
kleine Familie weicht mit ängstlichen Mienen zurück. Die Frau sieht alt aus,
ist aber wahrscheinlich höchstens fünfunddreißig.
»Entschuldigen Sie«, meint sie zu Lucy. »Die beiden
sind ganz begeistert. Sie haben nichts angefasst.«
»Wie schnell fährt er denn?«, fragt der ältere
Junge, ein etwa zwölfjähriger Rotschopf.
»Schauen wir mal. Vierhundertneunzig PS,
Sechsganggetriebe, 4,3 -Liter -V8 -Motor, achttausendfünfhundert Umdrehungen pro Minute,
Kohlefaserspoiler. Von null auf hundert in knapp vier Sekunden. Etwas über
dreihundert Sachen schnell, würde ich sagen.“
»Das gibt's nicht!«
»Hast du schon mal so ein Auto gefahren?«, fragt
Lucy. »Ich habe noch nie eins gesehen.«
»Und du?«, wendet sich Lucy an seinen ebenfalls
rothaarigen Bruder, der acht oder neun Jahre alt ist.
»Nein, Ma'am«, antwortet er schüchtern.
Als Lucy die Fahrertür öffnet, recken die beiden
Rotschöpfe neugierig die Hälse und schnappen gleichzeitig nach Luft.
»Wie heißt du?«, fragt sie den älteren Jungen.
»Fred.«
»Setz dich ans Steuer, Fred. Dann zeige ich dir, wie
man die Kiste anlässt.«
»Das brauchen Sie nicht«, sagt die Mutter. Sie sieht
aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Mach ja nichts kaputt,
Schatz.«
»Ich heiße Johnny«, mischt sich der kleine Bruder
ein.
»Du bist als Nächster dran«, erwidert Lucy. »Stell
dich hier neben mich und pass gut auf.«
Lucy schaltet die Zündung ein und vergewissert sich,
dass der Ferrari im Leerlauf ist. Dann nimmt sie Freds Finger und legt ihn auf
den roten Startknopf am Lenkrad. Sie lässt die Hand los. »Drück ihn ein paar
Sekunden und gib Gas.« Der Ferrari springt mit einem Dröhnen an.
Lucy fährt mit beiden Jungen eine Runde über den
Parkplatz, während die Mutter ganz allein dasteht, lächelt, winkt und sich die
Tränen abwischt.
Benton sitzt an seinem Bürotelefon im Labor für
kognitive Neurologie des McLean Hospital und zeichnet das Gespräch mit Gladys
Self auf Band auf. Wie bei ihrer berühmten Tochter passt der Name Seif auch auf
sie ausgezeichnet.
»Sicher fragen Sie sich, warum meine reiche Tochter
mir keine hübsche Villa in Boca kauft«, sagt Mrs. Self gerade. »Tja, Sir, ich
habe keine Lust auf Boca oder Palm Beach, sondern wohne lieber hier in
Hollywood, Florida, und zwar in einem kleinen, heruntergekommenen Apartment
mit Meerblick direkt an der Strandpromenade.«
»Und aus welchem Grund?«
»Um es ihr heimzuzahlen. Denken Sie nur, welchen
Eindruck es machen wird, wenn man mich eines Tages tot in dieser Bruchbude
auffindet. Ihre Einschaltquoten kann sie dann wohl vergessen.« Mrs. Self
kichert hämisch in sich hinein.
»Offenbar fällt es Ihnen schwer, etwas Nettes über
sie zu sagen«, sagt Benton. »Allerdings brauchte ich einige Minuten Lob, Mrs.
Self. Außerdem noch neutrale und zu guter Letzt ein paar kritische Äußerungen.«
»Weshalb macht sie überhaupt bei so etwas mit?«
»Das habe ich Ihnen doch schon zu Anfang dieses
Telefonats erklärt. Sie hat sich freiwillig als Teilnehmerin an einem
Forschungsprojekt gemeldet, das ich leite.«
»Meine Tochter würde sich nie im Leben freiwillig zu
etwas melden, wenn sie sich keine Vorteile davon verspricht. Solange ich sie
kenne, hat sie niemals einen Finger krumm gemacht, um anderen zu helfen.
Schwachsinn! Ein Notfall in der Familie, da lachen ja die Hühner! Ihr Glück,
dass ich keine Lust hatte, der ganzen Welt über CNN mitzuteilen, was für eine
Lügnerin sie ist. Lassen Sie mich mal sehen, ob ich mit meinen Vermutungen
richtigliege. Hinweis Nummer eins: Sie sind Polizeipsychologe. Wie heißt das
Krankenhaus noch mal? McLean? Ja, richtig. Ein Laden für Reiche und Prominente.
Genau das Richtige für sie, wenn sie einen Grund hätte, ins Krankenhaus zu
müssen. Und ich kenne da einen sehr guten. Wollen Sie raten? Sie ist Patientin.
Bingo! Mehr steckt nicht dahinter.«
»Wie ich schon sagte, nimmt sie an meiner Studie
teil.« Verdammt, er hat Dr. Seif ausdrücklich davor gewarnt, ihre Mutter
könne zu dem Schluss kommen, dass sie Patientin ist, wenn er sie wegen der
Bandaufnahme anruft. »Ich darf nicht über Einzelheiten sprechen, also weder
verraten, wo sie ist, noch, was sie tut oder warum. Informationen, die mit
unserer Studie oder den Probanden zusammenhängen,
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