Totenbuch
dagegen.
»Keine Sorge. Ich kann genauso gut lügen wie sie.«
»Anschließend käme das Negative. Zum Beispiel: Ich würde mir wünschen, dass du großzügiger wärst. Oder
weniger arrogant. Was Ihnen eben so
einfällt.«
»Ein Kinderspiel.«
»Und zu guter Letzt sind die neutralen Äußerungen
dran. Das Wetter. Einkäufe. Wie Sie Ihre Zeit verbringen. Und so weiter.«
»Trauen Sie ihr nicht. Sie wird Ihnen etwas
vorspielen und Ihre Studie vermasseln.«
»Das Gehirn kann nicht lügen, nicht einmal ihres«,
erwidert Benton.
Eine Stunde später liegt Dr. Seif - in einem
schimmernden roten Seidenpyjama, barfuß und in die Kissen gelehnt - auf ihrem
Bett.
»Ich verstehe, warum Sie das für überflüssig
halten«, sagt Benton und blättert die Seiten des hellblauen Standardisierten Klinischen Diagnosegesprächs für
Patienten mit DSM-IV-Achse-1-Störung (SCID) um.
»Brauchen Sie wirklich eine Vorlage, Benton?«
»Aus Gründen der Vereinheitlichung gehen wir in
dieser Studie streng nach SCID-Standard vor. Und zwar Punkt für Punkt. Offensichtlich
überflüssige Fragen wie die nach Ihrem Beruf werde ich mir sparen.«
»Ich will Ihnen helfen«, antwortet sie. »Ich war nie
Patientin in einer psychiatrischen Klinik, nehme keine Medikamente, trinke
nicht zu viel und schlafe für gewöhnlich fünf Stunden pro Nacht. Wie viele
Stunden schläft Kay?«
»Haben Sie in letzter Zeit stark zu- oder
abgenommen?«
»Ich achte sorgfältig auf mein Gewicht. Wie viel
wiegt Kay inzwischen? Isst Sie zu viel, wenn sie einsam oder niedergeschlagen
ist? In den Südstaaten ernähren sich die Leute doch hauptsächlich von
Frittiertem.«
Benton blättert weiter. »Irgendwelche seltsamen
Empfindungen im Körper oder auf der Haut?«
»Hängt davon ab, in wessen Gesellschaft ich bin.«
»Riechen oder schmecken Sie manchmal Dinge, die
andere Menschen nicht wahrnehmen?«
»Ich bin in vielerlei Hinsicht anders als andere.«
Benton blickt auf. »Ich glaube, Sie sollten besser
nicht an der Studie teilnehmen, Dr. Seif. So bringt uns das nicht weiter.«
»Darüber steht Ihnen kein Urteil zu.«
»Halten Sie Ihr Verhalten etwa für konstruktiv?«
»Sie haben mich noch nicht nach
Stimmungsschwankungen oder Angstattacken gefragt.«
»Hatten Sie jemals welche?«
»Schweißausbrüche, Zittern, Schwindel, Herzrasen,
Todesangst?« Sie betrachtet ihn so nachdenklich, als wäre er der Patient. »Was hat meine Mutter bei der
Bandaufzeichnung zu Ihnen gesagt?«
»Was war bei Ihrer Ankunft?«, hakt er nach. »Sie
schienen wegen der E-Mail ziemlich in Panik zu sein. Damit meine ich die, die
Sie gegenüber Dr. Maroni erwähnt haben. Seitdem haben Sie kein Wort mehr
darüber verloren.«
»Stellen Sie sich nur vor, Ihre kleine Assistentin
wollte diese SCID-Befragung mit mir durchführen!« Sie schmunzelt. »Ich bin
Psychiaterin. Das wäre, als ob eine Anfängerin Drew Martin zu einem
Tennisturnier herausgefordert hätte.«
»Was empfinden Sie, wenn Sie an Drews Schicksal
denken?«, erkundigt er sich. »In den Nachrichten kam, dass sie in Ihrer Sendung
aufgetreten ist. Einige meinen, der Mörder könnte dadurch auf sie aufmerksam
geworden ...«
»Als ob das ihr erster Fernsehauftritt gewesen wäre.
Außerdem lade ich so viele Menschen in meine Sendung ein.«
»Damit meinte ich die Öffentlichkeitswirksamkeit,
nicht nur den Auftritt in Ihrer Show.«
»Diese Sendereihe wird mir wahrscheinlich einen
weiteren Emmy einbringen. Falls dieses Ereignis ...«
»Falls was?«
»Es wäre ausgesprochen ungerecht«, entgegnet Dr.
Seif, »wenn die Jury wegen dieses Zwischenfalls Vorbehalte gegen mich hätte.
Schließlich hat es nichts mit der Qualität meiner Arbeit zu tun. Was hat meine
Mutter gesagt?«
»Es ist wichtig, dass Sie das erst beim CT
erfahren.«
»Ich möchte gern über meinen Vater sprechen. Als er
starb, war ich noch sehr jung.«
»Gut«, meint Benton, der sich im größtmöglichen
Abstand zu ihr niedergelassen hat. Er sitzt mit dem Rücken zum Schreibtisch,
auf dem der Laptop steht. Auf dem Tisch zwischen ihnen befindet sich ein
eingeschaltetes Bandgerät. »Dann reden wir über Ihren Vater.«
»Bei seinem Tod war ich nicht ganz zwei Jahre alt.«
»Und Sie erinnern sich noch gut genug an ihn, um
sich von ihm zurückgewiesen zu fühlen?«
»Aus den Untersuchungen, die Sie vermutlich auch
gelesen haben, wissen Sie sicher, dass Kinder, die nicht gestillt werden, im
späteren Leben unter erhöhtem Stress leiden. Frauen in Haft, die
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