Totenbuch
Es ist wichtig.«
Dr. Seif streckt die Beine aus, sodass ihre nackten
Füße den Tisch zwischen ihnen berühren. »Was wäre, wenn ich diesen Recorder vom
Tisch treten würde und er kaputtgeht?«
»Drews Mörder wird wieder zuschlagen«, entgegnet
Benton.
»Wenn ich nach diesem Recorder trete ...« Sie tippt
das Gerät mit der Zehe an und schiebt es ein Stück in Richtung Tischkante. »Was
würde dann wohl zwischen uns geschehen?«
Benton steht auf. »Wollen Sie, dass der Täter noch
einen Mord begeht, Dr. Seif?« Er greift nach dem Recorder, schaltet ihn aller dings nicht ab. »Haben Sie denn
nichts aus der Vergangenheit gelernt?«
»Ha, da haben wir es!«, ruft sie triumphierend. »Das
ist die Verschwörung. Kay wird wieder Lügen über mich verbreiten. Genau wie
damals.«
Benton öffnet die Tür. »Nein«, erwidert er. »Diesmal
kommt es noch viel schlimmer.«
9
Acht Uhr abends in Venedig. Dr. Maroni schenkt Wein
nach. Es dämmert. Durch das offene Fenster steigt der brackige Geruch des
Kanals zu ihm hinauf. Die Wolken hängen tief am Himmel und bilden eine dicke,
wattige Schicht. Am Horizont ist ein zartgoldener Streifen zu sehen.
»Absolut manisch.« Bentons Stimme ist so deutlich zu
hören, als säße er im selben Raum, nicht in Massachusetts. »Ich halte es weder
für wissenschaftlich sinnvoll noch für ethisch vertretbar, wenn wir
weitermachen. Außerdem ertrage ich es nicht mehr, mir ihre Spielchen und Lügen
anzuhören. Besorgen Sie sich eine andere Versuchsperson, Paolo. Ich habe genug
von ihr. Hinzu kommt, dass ich die Sache ungeschickt angegangen bin. Wie ein
Polizist, nicht wie ein Arzt.«
Dr. Maroni hat es sich am Fenster gemütlich gemacht
und trinkt einen ausgezeichneten Barolo, der ihm durch dieses Telefonat allerdings
vergällt wird. Er wird Marilyn Seif einfach nicht los. Sie hat sich in sein
Krankenhaus hineingedrängt und sich überall in Rom breitgemacht. Und jetzt verfolgt
sie ihn bis nach Venedig.
»Ich wollte wissen, ob ich sie von der Studie
abziehen kann. Ich will sie nicht untersuchen«, sagt Benton.
»Ich möchte Ihnen selbstverständlich keine
Vorschriften machen«, erwidert Dr. Maroni. »Schließlich ist es Ihre Studie.
Allerdings würde ich Ihnen empfehlen, sie nicht zu verärgern. Stecken Sie sie
einfach in die Röhre, sorgen Sie dafür, dass sie sich wohl fühlt, und werfen
Sie die Ergebnisse anschließend in den Papierkorb. Umso schneller ist sie
wieder weg.«
»Was meinen Sie mit weg?«
»Ach, man hat Sie noch gar nicht informiert! Sie
wurde entlassen und reist nach der Untersuchung ab«, entgegnet Dr. Maroni.
Hinter den offenen Fensterläden schimmert der Kanal olivgrün und so glatt wie
Glas. »Haben Sie mit Otto gesprochen?«
»Otto?«, wundert sich Benton.
»Capitano Poma.«
»Ich kenne ihn. Aber aus welchem Grund sollte ich
mit ihm reden?«
»Ich habe gestern mit ihm in Rom zu Abend gegessen,
und es erstaunt mich, dass er Sie nicht kontaktiert hat. Er ist unterwegs in
die USA. In dieser Stunde müsste er in der Luft sein.«
»Ach ja?«
»Er will Dr. Seif Fragen über Drew Martin stellen,
denn er ist sicher, dass sie uns etwas verschweigt.«
»Bitte sagen Sie, dass er es nicht von Ihnen hat.“
»Hat er nicht. Er weiß es trotzdem.«
»Wie ist das möglich?«, gibt Benton zurück. »Ist
Ihnen klar, was sie tun wird, wenn sie glaubt, wir hätten herumposaunt, dass
sie hier Patientin ist?«
Langsam tuckert ein Wassertaxi vorbei. Wellen
schwappen gegen die Mauer von Dr. Maronis Haus.
»Ich habe angenommen, dass die Information von Ihnen
kommt«, erwidert Dr. Maroni. »Oder von Kay. Schließlich gehören Sie beide dem
Ermittlerteam im Mordfall Drew Martin an.«
»Ganz sicher irren Sie sich.«
»Was ist mit Lucy?«
»Weder Kay noch Lucy wissen, dass Dr. Seif hier ist«,
antwortet Benton.
»Lucy ist gut mit Josh befreundet.«
»Moment mal! Sie sieht ihn, wenn sie zum CT kommt.
Dann plaudern sie über Computer. Warum sollte er ihr so etwas erzählen?«
Auf der anderen Seite des Kanals sitzt eine Möwe auf
einem Dach und schreit wie eine Katze. Als ein Tourist dem Vogel Brot zuwirft,
wird das Kreischen lauter.
»Ich sage das jetzt rein hypothetisch«, beginnt Dr.
Maroni. »Vermutlich hatte ich diesen Gedanken, weil er sie häufig anruft, wenn
der Computer streikt und er mit seinem Latein am Ende ist. Offenbar ist Josh
damit überfordert, als MRI-Techniker zu arbeiten und gleichzeitig das Netzwerk
zu betreuen.«
»Was?«
»Die Frage ist, wohin
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