Totenbuch
anders an. Erinnerst du dich an letzte Nacht,
Baby? Du warst wie ein Teenager.«
»Lass das«, sagt er.
»Warum? Bringe ich dich in Bedrängnis?« Shandy hat
eine Schwäche für anzügliche Andeutungen. Er schiebt ihre Hand weg. »Nicht
jetzt.«
Er ruft Scarpetta zurück. »Marino hier«, meldet er
sich, als spräche er mit einem Fremden, um Shandy nicht zu verraten, wer es
ist.
»Ich muss dich sehen«, antwortet Scarpetta knapp.
»Gut. Wann?« Marino tut weiterhin so, als kenne er
sie nicht. Außerdem ist er erregt und eifersüchtig, denn die Kerle gehen weiter
an ihrem Tisch vorbei und ziehen seine dunkelhäutige, exotische Freundin, die
ihre Reize offen zur Schau stellt, mit Blicken aus.
»Sobald du kannst. Bei mir zu Hause«, hört er
Scarpettas Stimme im Ohr. Diesen Tonfall kennt er noch nicht an ihr, und er
spürt ihren Zorn wie einen herannahenden Sturm. Ganz sicher hat sie die E-Mails
gesehen.
Shandy wirft ihm einen
Blick zu, der wohl »Mit wem redest du?« besagen soll.
»Ja, das wäre machbar.« Mit gespielter Ungeduld
wirft Marino einen Blick auf die Uhr. »In einer halben Stunde bin ich da.« Er
beendet das Gespräch. »Eine Leiche wird angeliefert«, sagt er zu Shandy.
Sie mustert ihn, als wolle sie seinen Augen die
Wahrheit entnehmen und wisse aus irgendeinem Grund, dass er lügt. »Welches
Bestattungsinstitut?«, fragt sie und lehnt sich zurück.
»Meddicks. Schon wieder. Der Kerl muss furchtbar
scharf auf Aufträge sein. Ständig kurvt er in seinem dämlichen Leichenwagen
durch die Gegend und ist immer als Erster am Unfallort.«
»Ach«, sagt sie. »Schöner Mist!« Ihr Blick wandert
zu einem Mann hinüber, der ein Biker-Kopftuch mit Flammenmuster trägt. Seine
Stiefel sind an den Absätzen heruntergetreten. Ohne auf sie zu achten, geht der
Mann an ihrem Tisch vorbei zum Geldautomaten.
Marino ist der Kerl schon bei ihrer Ankunft
aufgefallen, obwohl er ihn noch nie zuvor hier gesehen hat. Er beobachtet, wie
der Fremde jämmerliche fünf Dollar aus dem Automaten zieht. Währenddessen
schläft sein Köter zusammengerollt auf einem Stuhl neben dem Tresen. Der Mann
hat den Hund nicht ein einziges Mal gestreichelt und die Barfrau auch nicht um
einen Wassernapf oder etwas Essbares für ihn gebeten.
»Warum musst eigentlich immer du ran«, fängt Shandy
schon wieder an, sich zu beschweren. Doch ihr Tonfall hat sich verändert. Sie
klingt jetzt kälter und abweisender, als wäre sie ihm Begriff, ihm gleich eine
Szene zu machen. »Und das bei deinem Wissen und deiner Berufserfahrung. Der
tolle Detective von der Mordkommission! Eigentlich solltest du der Chef von
dem Laden sein, nicht sie oder ihre Nichte, die blöde Lesbe.« Sie tunkt den
letzten Rest Brötchen in die auf ihrem Pappteller verschmierte Sauce. »Die
große Chefin hat dich entmannt.«
»Ich habe dir doch verboten, so über Lucy zu
sprechen. Du hast ja keine Ahnung.«
»Was wahr ist, ist wahr. Und von dir lasse ich mir
nicht den Mund verbieten. In dieser Kneipe hier weiß doch jeder, was sie für
eine ist.«
»Jetzt sei endlich still!« Ärgerlich leert Marino
sein Glas. »Kein Wort mehr über Lucy. Wir beide kennen uns schon seit ihrer
Kindheit. Ich habe ihr das Autofahren und das Schießen beigebracht, und ich
will nichts mehr über sie hören. Kapiert?« Am liebsten würde er noch etwas
trinken, aber er weiß, dass er das besser lassen sollte, weil er schon drei
doppelte Bourbon intus hat. Also zündet er zwei Zigaretten an, eine für Shandy
und eine für sich. »Wer hier entmannt ist, wird sich schon noch zeigen.«
»Was wahr ist, ist wahr. Bevor die große Chefin dich
kreuz und quer durchs Land geschleppt hat, hattest du prima Karriereaussichten.
Weshalb trottest du eigentlich immer hinter ihr her? Ich weiß genau, warum.«
Wie so häufig, wirft Shandy ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann pustet sie
eine Rauchwolke aus. »Du hast gehofft, sie irgendwann ins Bett zu kriegen.«
»Vielleicht sollten wir umziehen«, meint Marino. »In
eine Großstadt.«
»Wir beide?« Wieder eine Rauchwolke.
»Was hältst du von New York?«
»In deinem dämlichen New York kann man nicht
Motorrad fahren. Auf keinen Fall ziehe ich in eine Stadt, wo es drunter und
drüber geht und von bescheuerten arroganten Yankees wimmelt.«
Er sieht sie aufreizend an und berührt unter dem
Tisch ihren Oberschenkel, denn er hat eine Todesangst davor, sie zu verlieren.
Sie, die von jedem Mann in dieser Kneipe begehrt wird, hat sich ausgerechnet
für ihn
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