Totenbuch
gleichgültig.
»Schon gut.« Lautstark schlürft Shandy die Reste aus
ihrem Glas. Für Marino hört es sich an, wie Rohrfrei in einem verstopften
Abfluss. »Niemand zu Hause.«
Im »Futtertrog« des Lokals dröhnt Lynyrd Skynyrd aus
den Lautsprechern. Die Budweiser-Neonreklame ist eingeschaltet, und die
Deckenventilatoren drehen sich träge. Die Wände sind mit Sätteln und
Autogrammkarten geschmückt, Motorradmodelle, Plastikpferde und
Keramikschlangen zieren die Fensterbretter. An den Holztischen drängen sich
Motorradrocker. Auch die Terrasse ist voll besetzt. Alle essen und trinken und
freuen sich schon auf das Konzert der Head Shop Boys.
»Verdammter Mist!«, murmelt Marino mit einem Blick
auf das Mobiltelefon und den drahtlosen Bluetooth-Ohrhörer, der danebenliegt.
Unmöglich, den Anruf zu ignorieren. Obwohl das Display »Nummer unterdrückt«
anzeigt, weiß er, dass sie es ist. Inzwischen hat sie die E-Mails auf dem
Desktop seines Computers vermutlich gesehen. Das Einzige, was ihn in seinem
Gefühl der gekränkten Unschuld wurmt, ist, dass es so lange gedauert hat. Er
malt sich aus, dass Dr. Seif ihn auf dieselbe Weise begehrt wie Shandy - und
ihn, so wie sie, richtig rannimmt. Seit einer ganzen Woche hat er nicht
geschlafen.
»Die Toten laufen doch nicht weg, oder?«, sagt
Shandy. »Soll die große Chefin sich doch endlich mal selbst um ihren Kram kümmern.«
Sie ist es wirklich. Marino trinkt einen Schluck
Bourbon mit Ginger-Ale. Immer wieder wandert sein Blick zum Telefon.
»Sie soll es zur Abwechslung mal allein erledigen.«
Shandys Stimme klingt schrill. »Scheiß auf sie!«
Marino antwortet nicht. Seine Anspannung wächst,
während er die Reste im Glas kreisen lässt. Er hat Scarpettas Anrufe nicht
angenommen und sie auch nicht zurückgerufen. Jetzt hat er ein beklemmendes
Gefühl in der Brust. Dr. Selfs Worte fallen ihm ein, und er kommt sich betrogen
und missbraucht vor. Sein Gesicht wird heiß. Seit fast zwanzig Jahren
vermittelt Scarpetta ihm nun schon, dass er nicht gut genug für sie ist, obwohl
das Problem vielleicht bei ihr liegt. Ja,
genau! Sie ist verklemmt und eine Männerhasserin! Zum Teufel mit ihr! Wie hat sie es bloß geschafft, ihm so lange einzureden,
dass das alles nur seine Schuld ist?
»Soll die große Chefin die neueste Leiche selber in
Empfang nehmen. Sie hat doch sowieso nichts Besseres zu tun«, höhnt Shandy.
»Was weißt du schon?«
»Du würdest dich wundern. Also pass lieber auf.«
Shandy winkt die Kellnerin heran und bestellt noch eine Bloody Mary. »Weshalb
sollte ich aufpassen?«
»Ständig verteidigst du sie, und das geht mir
tierisch auf die Nerven. Offenbar hast du vergessen, welche Rolle ich in
deinem Leben spiele.«
»Nach einer ganzen Woche!«
»Trotzdem Vorsicht! Was du da treibst, ist mehr als
Bereitschaftsdienst. Du tanzt nach ihrer Pfeife«, erwidert sie. »Warum tust du
das? Warum springst du sofort, wenn sie etwas von dir will? Häschen, hüpf!«
Lachend schnippt sie mit dem Finger.
»Halt verdammt noch mal das Maul!«
»Häschen, hüpf!« Sie beugt sich vor, damit er ihr in
den Ausschnitt ihrer Seidenweste schauen muss.
Marino greift nach Telefon und Ohrhörer.
»Willst du die Wahrheit wissen?« Shandy trägt keinen
BH. »Sie behandelt dich, als wärst du ihre Telefonzentrale, ein Kofferträger,
ein Niemand. Sicher bin ich nicht die Erste, die dir das sagt.«
»Das würde ich mir nie gefallen lassen«, gibt Marino
zurück. »Und wer hier der Niemand ist, werden wir noch sehen.« Er denkt an Dr.
Seif und stellt sich vor, wie es wäre, in einer weltweit ausgestrahlten
Fernsehsendung aufzutreten.
Shandy greift unter den
Tisch. Er kann ihr ganz tief in die Weste blicken. Sie berührt ihn.
»Hör auf«, sagt er. Während er wartet, wachsen Anspannung
und Wut.
Bald werden die anderen Kerle in der Kneipe einen
Vorwand finden, betont zufällig an ihrem Tisch vorbeizuschlendern, damit sie
Shandy, die sich immer weiter nach vorn beugt, in den Ausschnitt glotzen
können. Marino beobachtet, wie sie die Brust aufplustert und das Dekollete
anhebt. Sie hat ein Talent dafür, sich aufreizend zu geben und Männern
Hoffnungen zu machen. Am Tresen steht ein fetter Hüne, der seine Brieftasche
mit einer Kette gesichert hat, langsam auf. Auf dem Weg zum Klo lässt er sich
ziemlich viel Zeit, um ausgiebig zu gaffen. Marino hat nicht übel Lust, ihm
eine zu verpassen.
»Gefällt es dir nicht?« Shandy befummelt ihn weiter.
»Denn für mich fühlt es sich ganz
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