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Totenbuch

Totenbuch

Titel: Totenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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miteinander sprechen können. Aber offenbar
ist der Zeitpunkt ungünstig. Warum legst du dich nicht ins Gästezimmer und
schläfst ein bisschen? Wir unterhalten uns morgen früh weiter.«
    »Ich finde den Zeitpunkt so
günstig wie jeden anderen.« Er gähnt und streckt sich. Den Kaffee rührt er
nicht an. »Also schieß los. Wenn nicht, kann ich ja wieder verschwinden.«
    »Lass uns ins Wohnzimmer gehen
und uns an den Kamin setzen.« Sie steht vom Küchentisch auf.
    »Draußen sind es über
fünfundzwanzig Grad.« Er folgt ihr.
    »Dann mache ich es uns hier
drinnen hübsch kühl.« Sie stellt die Klimaanlage an. »Mir ist das Reden vor dem
Kamin schon immer leichtergefallen.«
    Er geht hinter ihr her in den
Raum, den sie am liebsten hat, ein kleines Wohnzimmer mit einem gemauerten
Kamin, Dielenböden, offenen Deckenbalken und vergipsten Wänden. Nachdem sie ein
präpariertes Scheit in den Kamin gelegt und es angezündet hat, rückt sie zwei
Sessel zurecht und löscht das Licht.
    Er beobachtet, wie die Flamme
die Papierhülle des Scheits verzehrt. »Ich fasse es nicht, dass du diese
Dinger benutzt«, sagt er. »Sonst muss bei dir immer alles echt sein, und jetzt
verwendest du falsches Holz.«
     
    Lucious Meddick fährt eine Runde
um den Block. Seine Abneigung wächst von Minute zu Minute.
    Gerade hat er sie ins Haus gehen
sehen. Und dann kam dieser bescheuerte Ermittler betrunken auf seinem Motorrad
angebraust und hat die ganze Nachbarschaft geweckt. Man trifft sich immer
zweimal, denkt
Lucious. Gott steht auf seiner Seite. Sie hat ihn ungerecht behandelt, und nun
macht Gott alles wieder gut. Er wird ihr eine Lektion erteilen, indem er
Lucious eine Gelegenheit gibt, die beiden in flagranti zu ertappen. Langsam
lässt er, voller Angst vor einer erneuten Reifenpanne, den Leichenwagen in die
dunkle Gasse rollen. Dabei nimmt seine Wut immer mehr zu. Das Gummiband
schnalzt, während sein Zorn wächst und wächst. Die Stimmen im Polizeifunk sind
für ihn ein Hintergrundrauschen, das er auch im Schlaf entschlüsseln kann.
    Sie haben nicht ihn angerufen!
Vor wenigen Minuten ist er an einer Unfallstelle auf dem William Hilton Highway
vorbeigefahren und hat beobachtet, wie die Leiche in den Wagen der Konkurrenz
verladen wurde. Wieder einmal hat man Lucious übergangen. Seit diese Frau in
Beaufort County etwas zu sagen hat, bekommt er keine Aufträge mehr. Sie hat ihn
auf die schwarze Liste gesetzt, weil er ihre Adresse verwechselt hat. Aber wenn
das für sie schon eine Verletzung ihrer Privatsphäre war, wird sie noch ihr
blaues Wunder erleben!
    Frauen nachts heimlich durch ein
Fenster zu filmen ist für Lucious eine liebe Gewohnheit, die erstaunlich wenig
Aufwand erfordert, denn viele sparen sich Gardinen oder Jalousien oder lassen
sie einen kleinen Spalt offen. Wer wird schon hinschauen?, denken sie. Welcher vernünftige
Mensch drückt sich im Gebüsch herum oder klettert auf einen Baum, nur um zu
gaffen? Doch da
haben sie die Rechnung ohne Lucious gemacht. Diese Ärztin mit ihrem Standesdünkel
wird aus allen Wolken fallen, wenn sie sich selbst in einem Heimvideo sieht,
das sich jeder Internetnutzer kostenlos anschauen kann, ohne den Urheber zu
kennen. Das Beste wären Aufnahmen von den beiden, wie sie gerade zugange sind.
Lucious denkt an den Leichenwagen der Konkurrenz - eine Schrottlaube verglichen
mit seinem Luxusgefährt -, an den Autounfall und die bodenlose Ungerechtigkeit,
die ihm heute widerfahren ist.
    Wen hat man verständigt? Nicht
Lucious, und das, obwohl er eigens die Polizeizentrale angefunkt und gemeldet
hat, dass er sich ganz in der Nähe befand. Doch die Frau am Funk hat ihn nur unfreundlich
und schnippisch nach der Nummer seines Streifenwagens gefragt. Und als er
antwortete, er sei kein Streifenwagen, hat sie ihn angeschnauzt, er solle die
Finger vom Polizeifunk und von Funkgeräten überhaupt lassen. Das Gummiband schnalzt
zurück und schmerzt wie ein Peitschenhieb. Der Leichenwagen holpert über
Temposchwellen und vorbei an dem Eisentor, hinter dem der Garten der Ärztin
liegt. Ein weißer Cadillac versperrt ihm den Weg. Es ist dunkel hier. Das
Gummiband schnalzt, und Lucious stößt einen Fluch aus. Er erkennt den ovalen
Aufkleber an der hinteren Stoßstange des Cadillac.
    HH für Hilton Head.
    Lucious beschließt, den
verdammten Leichenwagen einfach hier stehen zu lassen. Schließlich fährt kein
Mensch nachts durch diese dämliche Gasse. Am liebsten würde er den Cadillac bei
der Polizei melden.

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