Totenbuch
trotzdem hast du den Leichensack geöffnet, um
dich vor deiner Freundin mit dem Fall zu brüsten. Wie konntest du nur?«
Er weicht ihrem Blick aus und
antwortet immer noch nicht.
»Marino, warum?«, beharrt sie.
»Es war ihre Idee. Das hättest
du auf dem Band eigentlich sehen müssen«, erwidert er.
»Dass du ohne meine Erlaubnis
jemanden herumführst, ist an sich schon schlimm genug. Aber welcher Teufel hat
dich geritten, ihr die Leichen zu zeigen? Insbesondere die des Jungen?«
»Du kennst das Band nur, weil
Lucy mir nachspioniert.« Finster blickt er sie an. »Shandy hat einfach nicht
lockergelassen und sich geweigert, aus der Kühlkammer zu kommen, obwohl ich sie
darum gebeten habe.«
»Erspare mir deine Ausreden.«
»Mich kotzt diese
Hinterherschnüffelei an.«
»Und ich habe deine Lügen und
deine gleichgültige Haltung satt«, entgegnet Scarpetta.
»Ich habe mir sowieso überlegt,
ob ich kündigen soll«, gibt er in gehässigem Ton zurück. »Falls du deine Nase
in meine E-Mails von Dr. Seif gesteckt hast, müsstest du eigentlich wissen,
dass ich ein besseres Jobangebot habe. Ich habe es also nicht nötig, den Rest
meines Lebens nach deiner Pfeife zu tanzen.«
»Kündigen? Du hoffst wohl eher,
dass ich dich rausschmeiße? Denn das hättest du nach dieser Episode eigentlich
verdient. Wir führen weder Besucher im Autopsiesaal herum, noch missbrauchen
wir die armen Menschen, die bei uns landen, um uns in Szene zu setzen.«
»Mein Gott, warum müssen Frauen
immer aus einer Mücke einen Elefanten machen, emotional werden und wahllos um
sich schlagen? Los, schmeiß mich doch raus!«, antwortet er mit belegter Stimme,
wobei er jedes Wort überbetont, wie es Betrunkene tun, wenn sie unbedingt
nüchtern klingen wollen.
»Merkst du denn nicht, wie du
Dr. Seif in die Hände spielst?«
»Du bist nur eifersüchtig, weil
sie viel berühmter ist als du.«
»Hier redet nicht der Pete
Marino, den ich kenne.«
»Und du bist nicht die Dr.
Scarpetta, die ich kenne. Hast du gelesen, was sie sonst noch über dich
schreibt?«
»Es war eine ganze Menge.«
»Du lebst eine Lüge. Warum gibst
du es nicht endlich zu? Vielleicht hat Lucy es ja von dir.«
»Seit wann interessierst du dich
so brennend für meine sexuellen Neigungen?«
»Weil du Angst hast, es dir
einzugestehen.«
»Falls Dr. Seif mit ihren
Andeutungen recht hätte, wäre es nicht das geringste Problem für mich. Es sind
eher Menschen wie sie und du, die anscheinend Angst davor haben.«
Er lehnt sich zurück, und kurz
sieht es aus, als hätte er Tränen in den Augen. Doch schon im nächsten Moment
verhärten sich seine Züge wieder. Er starrt geradeaus ins Kaminfeuer.
»Das, was du gestern getan hast,
passt nicht zu dem Marino, mit dem ich schon so viele Jahre befreundet bin«,
sagt sie.
»Vielleicht ist das mein
wirkliches Ich, und du wolltest es bloß nicht wahrhaben.«
»Ich weiß, dass das nicht
stimmt. Was ist los mit dir?«
»Keine Ahnung, wie es so weit
mit mir kommen konnte«, erwidert er. »Wenn ich zurückschaue, sehe ich einen
Kerl, der eine Zeitlang ein recht guter Boxer war. Doch ich hatte keine Lust,
mir die Birne weichprügeln zu lassen. Und davon, als Streifenpolizist durch New
York zu laufen, hatte ich auch bald die Nase voll. Dann habe ich Doris
geheiratet, die nach einer Weile genug von mir hatte, und hatte einen Perversen
als Sohn, der inzwischen tot ist. Bis zum heutigen Tag jage ich kranken
Arschlöchern hinterher, ohne eigentlich zu wissen, warum. Außerdem kapiere ich
immer noch nicht, warum du das alles tust. Wahrscheinlich wirst du es mir auch
nicht verraten.« Er schmollt.
»Möglicherweise liegt es daran,
dass ich in einem Haushalt aufgewachsen bin, wo nie ein Mensch richtig mit mir
gesprochen hat. Nie hatte ich das Gefühl, etwas Wichtiges zu erfahren oder verstanden
und ernst genommen zu werden. Vielleicht ist der Grund auch, dass ich das
Sterben meines Vaters miterleben musste. Jedenfalls habe ich den Rest meines
Lebens damit verbracht, die Macht zu begreifen, an der ich als Kind gescheitert
bin: den Tod. Wahrscheinlich gibt es keine einfachen, ja, nicht einmal
logische Gründe für das, was wir sind oder tun.«
Als sie ihn ansieht, weicht er
ihrem Blick aus. »Es könnte auch sein, dass für dein Verhalten ebenfalls keine
einfachen oder logischen Erklärungen existieren. Aber die Antwort interessiert
mich trotzdem«, sagt Scarpetta.
»Früher war ich nicht dein
Untergebener. Das ist der Unterschied.« Er steht
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