Totenbuch
drittes Auge verpasse.«
Während das Motorrad sich dröhnend entfernt, sichert
Marino die Waffe und steckt sie wieder in den Hosenbund. Er weiß nicht, welcher
Teufel ihn gerade geritten hat, und das macht ihm Angst. Als er den Hund
streichelt, bleibt dieser flach auf dem Bauch liegen und leckt ihm die Hand.
»Wir werden ein schönes Zuhause
für dich finden«, sagt Marino zu ihm. Im nächsten Moment graben sich Finger in
seinen Arm. Er sieht Jess an.
»Es wird Zeit, dass du das
Problem löst«, beginnt sie. »Wovon redest du?«
»Das weißt du ganz genau. Ich
habe dich gleich vor dieser Frau gewarnt. Sie demütigt und erniedrigt dich.
Schau nur, was gerade passiert ist. Seit einer Woche drehst du durch.«
Seine Hände zittern heftig. Er
betrachtet Jess, damit sie ihm von den Lippen ablesen kann. »Das war dämlich
von mir, Jess. Und was jetzt?« Er tätschelt den Hund.
»Ich nehme ihn als
Saloon-Maskottchen. Und diesem Kerl würde ich nicht raten, noch einmal hier
aufzukreuzen. Aber du solltest vorsichtig sein. Du hast da etwas losgetreten.«
»Hast du den Kerl schon mal hier
gesehen?«
Jess schüttelt den Kopf.
Marino bemerkt, dass Shandy auf
der Veranda am Geländer lehnt, und fragt sich, warum sie ihm nicht zu Hilfe
gekommen ist. Beinahe hätte er jemanden erschossen. Und sie steht noch immer
seelenruhig da.
10
Irgendwo in der Dunkelheit kläfft ein Hund.
In der Ferne hört Scarpetta das unverkennbare
grollende Tuckern von Marinos Roadmaster, obwohl er sich noch viele
Häuserblocks entfernt auf der Meeting Street befindet und in südliche Richtung
fährt. Kurz darauf biegt das Motorrad dröhnend in die schmale Gasse hinter
ihrem Haus ein. Er ist betrunken. Das hat sie schon seiner Stimme am Telefon
angemerkt. In letzter Zeit legt er es ständig darauf an, sie zu provozieren.
Allerdings kann sie nur ein sinnvolles Gespräch -
vielleicht das wichtigste, das sie je hatten - mit ihm führen, wenn er nüchtern
ist. Während er auf der King Street nach links und dann wieder nach links in
die enge Auffahrt einbiegt, die sie mit ihrer unsympathischen Nachbarin Mrs.
Grimball teilt, setzt sie Kaffee auf. Marino lässt den Motor ein paarmal
aufheulen, um seine Ankunft anzukündigen, und schaltet ihn dann ab.
»Hast du was zu trinken da?«, fragt er, als
Scarpetta die Tür öffnet. »Ein Schlückchen Bourbon wäre nicht zu verachten.
Oder, Mrs. Grimball?«, ruft er in Richtung des gelben Hauses, wo gerade eine
Gardine zugezogen wird. Nachdem er das Lenkerschloss des Motorrads gesperrt
hat, steckt er den Schlüssel ein.
»Jetzt aber rein!«, befiehlt Scarpetta, der klar
wird, dass er noch viel betrunkener ist als angenommen. »Mein Gott, war das
denn wirklich nötig, durch die Gasse zu brettern und meine Nachbarin
anzuschreien?«, fährt sie fort, als er ihr in die Küche folgt. Die Schritte
seiner Stiefel hallen auf dem Boden wider. Sein Kopf streift beinahe die
Türrahmen.
»Aus Sicherheitsgründen. Ich
wollte mich vergewissern, dass dahinten alles in Ordnung ist und sich keine
verlorengegangenen Leichenwagen oder Obdachlose dort herumdrücken.«
Schwer lässt er sich auf einen
Stuhl fallen. Er dünstet Alkoholgeruch aus, sein Gesicht ist hochrot, und er
hat blutunterlaufene Augen. »Ich habe nicht viel Zeit«, sagt er. »Muss zurück
zu meinem Mädchen. Sie glaubt, ich bin in der Autopsie.«
Scarpetta reicht ihm eine Tasse
schwarzen Kaffee. »Du wirst so lange bleiben, bis du wieder nüchtern bist.
Ansonsten Finger weg von deinem Motorrad! Ein Wunder, dass du in deinem Zustand
überhaupt heil angekommen bist. Du fährst doch sonst nicht betrunken. Was ist
los?«
»Gut, ich habe mir ein paar
Drinks genehmigt. Wen interessiert das? Mir geht es bestens.«
»Mich interessiert es! Und dir
geht es ganz und gar nicht bestens. Mir ist es egal, wie viel Alkohol du
angeblich verträgst. Jeder betrunkene Autofahrer hält sich nämlich für absolut
fahrtüchtig, bis er im Leichenschauhaus, im Krankenhaus oder im Gefängnis
landet.«
»Ich bin nicht hergekommen, um
mir Vorträge von dir anzuhören.«
»Und ich habe dich nicht
eingeladen, damit du sternhagelvoll hier aufkreuzt.«
»Weshalb dann? Um mir die
Leviten zu lesen? Um auf meinen Fehlern rumzuhacken? Um noch etwas zu finden,
das deinen hohen Ansprüchen nicht genügt?«
»Normalerweise redest du nicht
so.«
»Vielleicht hast du mir ja nie
richtig zugehört«, gibt er zurück.
»Ich habe dich gebeten zu
kommen, damit wir offen und ehrlich
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