Totenbuch
auf. »Ich brauche jetzt einen
Bourbon.«
»Ich glaube, du solltest jetzt
nichts mehr trinken«, sagt sie bedrückt.
Doch er ignoriert sie. Außerdem
weiß er, wo die Hausbar ist. Sie hört, wie er den Schrank öffnet und sich ein
Glas herausnimmt. Dann geht eine andere Schranktür auf. Eine Flasche klappert.
Ein volles Glas in der einen, die Flasche in der anderen Hand, kehrt er zurück.
In ihrem Magen breitet sich ein unbehagliches Gefühl aus. Sie möchte, dass er
jetzt geht, bringt es aber nicht über sich, ihn mitten in der Nacht betrunken
auf die Straße zu setzen.
Marino stellt die Flasche auf
den Couchtisch. »Damals in Richmond, ich als leitender Detective, du als
Chefpathologin, haben wir uns wirklich gut verstanden.« Er hebt sein Glas.
Marino ist kein Mensch, der einfach nur nippen kann. Er trinkt einen großen
Schluck. »Dann hast du deinen Job verloren, und ich habe gekündigt. Und
seitdem ist alles anders gelaufen als geplant. Ich fand Florida einfach
spitze. Wir hatten ein Ausbildungszentrum, das absolut konkurrenzlos war. Ich
war für die Ermittlungen zuständig, habe gutes Geld verdient und hatte sogar
meine eigene Promi-Psychologin. Nicht dass ich eine Psychologin nötig gehabt
hätte. Aber ich habe abgenommen und war in Topform. Mir ging es prima, bis ich
die Therapie abgebrochen habe.«
»Wenn du weiter zu Dr. Seif
gegangen wärst, hätte sie dich kaputtgemacht. Warum kapierst du einfach nicht,
dass ihre E-Mails an dich nichts weiter als Versuche sind, dich für ihre Zwecke
einzuspannen? Du weißt doch, was für ein Mensch sie ist. Du hast sie selbst
bei Gericht erlebt und ihre Aussage gehört.«
Marino trinkt noch einen Schluck
Bourbon. »Zum ersten Mal begegnest du einer Frau, die mehr Macht hat als du,
und das kannst du nicht ertragen. Vielleicht stört dich ja meine Beziehung zu
ihr. Und weil du deine Felle davonschwimmen siehst, verleumdest du sie.
Schließlich sitzt du hier in der Provinz fest und bist außerdem auf dem besten
Weg, zu heiraten und Hausfrau zu werden.«
»Spar dir deine Beleidigungen.
Ich will mich nicht mit dir streiten.«
Er trinkt. Seine Wut lodert
hoch. »Womöglich liegt es ja auch an meiner Beziehung zu ihr, dass du unbedingt
aus Florida wegziehen wolltest. Inzwischen ist mir vieles klar.«
»Soweit ich im Bilde bin, sind
wir wegen Hurrikan Wilma weggezogen«, entgegnet sie, und das flaue Gefühl in
der Magengrube wird schlimmer. »Deswegen und weil ich wieder ein richtiges Büro
und eine richtige Praxis gebraucht habe.«
Er leert sein Glas und schenkt
nach.
»Du hast genug«, sagt sie.
»Stimmt exakt.« Er hebt das Glas
und trinkt.
»Ich denke, ich rufe dir jetzt
besser ein Taxi.«
»Vielleicht solltest du dir
anderswo eine richtige Praxis einrichten und schleunigst von hier
verschwinden. Das wäre sicher besser für dich.«
»Was besser für mich wäre,
kannst du überhaupt nicht beurteilen«, entgegnet sie und mustert sein breites
Gesicht eindringlich im flackernden Schein des Kaminfeuers. »Bitte trink nichts
mehr. Du hast genug.«
»Richtig, ich habe genug.«
»Marino, bitte lass nicht zu,
dass Dr. Seif einen Keil zwischen uns treibt.«
»Dazu brauche ich sie nicht. Das
hast du ganz allein getan.“
»Bitte nicht.«
»Doch.« Er lallt und schwankt
ein wenig. In seinen Augen ist ein beängstigendes Glitzern zu sehen. »Keine
Ahnung, wie viele Tage mir noch bleiben. Schließlich bin ich kein Hellseher.
Deshalb habe ich nicht vor, meine Zeit in einer Stadt zu vergeuden, die mich ankotzt,
und für eine Frau zu arbeiten, die so tut, als könnte ich ihr nicht das Wasser
reichen. Du glaubst wohl, du wärst etwas Besseres als ich. Aber das stimmt
nicht.«
»Was soll das heißen, du
wüsstest nicht, wie viele Tage dir noch bleiben? Bist du etwa krank?«, fragt
sie.
»Nur angewidert«, entgegnet er.
»Und ich will, dass du das endlich begreifst.«
Noch nie hat sie ihn so
betrunken erlebt. Er wankt, als er aufsteht, und verschüttet beim Einschenken
den Bourbon. Am liebsten würde sie ihm die Flasche wegnehmen, doch sein Blick
hindert sie daran.
»Es ist zu gefährlich, dass du
allein wohnst«, sagt er mit schwerer Zunge. »Viel zu gefährlich. Du bist ganz
allein in diesem kleinen alten Haus.«
»Ich habe fast immer allein
gewohnt.«
»Ja. Und wo zum Teufel war
Benton? Hoffentlich führt ihr beide eine harmonische Beziehung.«
Scarpetta sieht Marino zum
ersten Mal so betrunken und voller Hass, und sie weiß nicht, wie sie sich
verhalten
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