TotenEngel
muss deswegen gleich psychologisch betreut werden«, knurrte Van Leeuwen.
»Nicht jeder Mann, der seine Frau verloren hat, ist ein ranghoher Polizeioffizier, der nachts im Bahnhof schläft und Jugendliche in Straßenbahnen ohrfeigt«, hielt Doktor Menardi gelassen dagegen.
Ganz kurz verschlug es dem Commissaris die Sprache: Er hatte den Vorfall längst vergessen. In den kleinen leeren Raum jäher Verwirrtheit drang wieder die Stimme der Psychologin.
»Der Junge hat über seinen Anwalt Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Sie eingereicht, das wussten Sie doch? Oder hat Sie davon noch niemand in Kenntnis gesetzt?«
»Bis jetzt nicht«, gestand der Commissaris. Er spürte einen Anflug von Scham, der sich schnell zu loderndem Zorn auswuchs, ohne dass er sofort wusste, gegen wen sich dieser Zorn richtete, außer gegen den Hoofdcommissaris, der über die Beschwerde natürlich Bescheid wissen musste und sie ihm bisher vorenthalten hatte, Doktor Menardi dagegen nicht.
»Da braut sich ein Sturm über Ihrem Kopf zusammen, Mijnheer van Leeuwen«, meinte die Psychologin. »Und ein Besuch bei mir könnte durchaus dazu angetan sein, die Götter zu besänftigen, wenn es zur internen Untersuchung kommt. Ich stehe auf Ihrer Seite, Commissaris, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten.«
Helle Morsezeichen in der Leitung meldeten einen weiteren Anruf, und der Commissaris sagte rasch: »Ich rufe Sie zurück, Doktor«, dann drückte er die Taste, neben der das zweite Lämpchen pulsierte. »Van Leeuwen!«
»Spreche ich mit Commissaris Bruno van Leeuwen?« Die Stimme eines Mannes, sie klang jedoch leise, spröde, zögernd.
»Am Apparat.«
»Mein Name ist Jacobszoon. Kornelis Jacobszoon. Sie haben eine Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen.« Der Mann sprach ohne Akzent, sehr artikuliert und jetzt mit einem leicht fragenden Unterton.
»Ja, richtig.« Der Commissaris suchte Block und Kugelschreiber, und als er den Stapel mit den Berichten der Wijkteamsbeiseiteschob, entdeckte er darunter eine handschriftliche Notiz des Hoofdcommissaris:
Bruno, melde dich bei mir, sobald du im Büro bist.
Es gibt Ärger, Jaap.
»Es geht um eine unserer Ermittlungen, bei der Sie uns vielleicht helfen können, Mijnheer Jacobszoon«, fuhr Van Leeuwen fort. »Kannten Sie eine Heleen Soeteman?«
»Ja«, der Mann zögerte wieder kurz, und der fragende Unterton wurde stärker, »obwohl Kennen ein wenig zu viel gesagt wäre. Ich habe sie ein Mal getroffen und mich kurz mit ihr unterhalten.«
»In welchem Zusammenhang?«
Diesmal dauerte das Zögern länger. »Ich weiß nicht, ob ich mit Ihnen so einfach am Telefon darüber reden kann. Die Unterhaltung mit Heleen Soeteman fällt meiner Einschätzung nach unter die ärztliche Schweigepflicht. Sie müssten sich schon persönlich mit mir treffen, am besten mit einem amtlichen …«
»Sie sind also Arzt, Mijnheer Jacobszoon?«
»Nein, ich bin Psychologe.«
Der Commissaris spürte, wie das Kribbeln zurückkehrte, und wieder glaubte er eine Sekunde lang, der Lösung des Falls ganz nah zu sein. Er wagte einen verwegenen Vorstoß. »Schreiben Sie zufällig eine Kolumne für De Avond!? «
»Das auch, ja.« Der fragende Unterton wich; Überraschung trat an die Stelle von Zögern.
»Und außerdem treten Sie im Fernsehen auf, bei samariter.nl, jeden Donnerstag, kurz nach Mitternacht?«
»Ja.«
Der Commissaris vergaß Doktor Menardi und die Anzeige des Jungen aus der Straßenbahn. »Sie sind der Samariter ?«
»Die Sendung heißt so, aber natürlich gibt es ein ganzes Team von Mitarbeitern und …«
»Das ist ja großartig!«, fiel der Commissaris ihm ins Wort, denn plötzlich sah er die ersten Fußabdrücke auf dem sandigen Weg,noch verschwommen, halb zugeschüttet, aber eindeutig Spuren, denen er folgen konnte. »Sie sind genau der Mann, den ich brauche. Wann können wir uns treffen?«
28
Kornelis Jacobszoon saß hinter einem schlichten Metallschreibtisch in einem kleinen Studio mit schwarzen Wänden, das nur von der Tischlampe erhellt wurde. Es gab noch eine rote Lampe über der gepolsterten Tür und einen Scheinwerfer an der Kamera vor dem Schreibtisch, aber beide waren aus, und der Lichtkreis der Tischlampe reichte kaum bis zu den Stapeln von Videokassetten auf einem Hocker neben Jacobszoons Stuhl. Der Commissaris suchte nach einem Platz, wo er seinen Trenchcoat ablegen konnte. Er fand keinen. Also behielt er den Mantel in den Händen und bemerkte: »Nach unseren Erkenntnissen hat Heleen
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