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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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der vor dem schwarzen Hintergrund der Studiowand an seinem Schreibtisch saß. Er trug Kopfhörer, an denen ein kleines Mikro befestigt war. Er richtete seine hellblauen Augen auf die Kamera und sagte: »Hallo, wo immer ihr gerade seid da draußen …«
    »Das ist die Sendung von letzter Woche.« Der Moderator trat vom Fernseher zurück. Er drückte auf den Schnellvorlauf, und was sein Ebenbild im Fernsehen sagte, ging im Surren des Bandes unter. Gleichzeitig liefen zwei zappelnde Längsstreifen durch das Bild, sodass sein Oberkörper in mehrere flackernde, verwischte Teile zuzerfallen schien. Ein weiterer Knopfdruck ließ das Band wieder langsamer laufen. Die Streifen verschwanden, und der Samariter im Fernsehen hörte auf, an seinem Schreibtisch zu ruckeln und zu zittern. »… und wie heißt du?«, fragte er gerade, als der Ton zurückkehrte.
    »Ja, also, Emma«, hörte man die Stimme einer unsichtbaren jungen Anruferin.
    »Wie alt bist du, Emma?«, fragte der Samariter.
    »Ja, also, vierzehn«, antwortete die junge Frau, die eigentlich noch ein Mädchen war, »aber bald werde ich fünfzehn.«
    »Und du bist schwanger?«
    »Ja, stimmt, also, ich krieg Zwillinge, eineiige …«
    »Das ist doch schön.«
    »Aber es lebt nur eins. Also, eins ist jetzt tot.«
    »In welchem Monat bist du denn, Emma?«, fragte Jacobszoon. Im Fernsehen wirkten seine Augen, als könnte man ihm alles anvertrauen, alles würde bei ihm Verständnis finden. Er hatte schon so viel gesehen, dass er immer und in jeder Lage wusste, was zu tun war. Wenn es etwas gab, das einem helfen konnte, wenn eine Lösung für ein Problem existierte, dann fand er sie. Auch Van Leeuwen gelang es kaum, sich diesen Augen zu entziehen. Sie waren groß, fast übernatürlich geweitet und schmerzhaft aufrichtig: ein Schmerz aus hellem Blau, eine Aufrichtigkeit, die sich aus Anteilnahme, Erfahrung und Wissen zu speisen schien.
    Emma sagte: »Ja, also, im achten, ich bin im achten Monat.«
    »Woran ist denn der eine Zwilling gestorben?«
    »Sie … also, es ist ein Mädchen – sie wurde getötet. Ich hab da eine Spritze durch die Bauchdecke gekriegt, weil die Ärzte … Also, die haben festgestellt, dass Sarah so was hat, das heißt Down-Syndrom. Ich habe mich informiert, ich hätte das Kind trotzdem haben wollen, aber dann haben sie bei Sarah auch noch einen schweren Herzfehler entdeckt und gesagt, sie wird das erste Jahr nicht überleben.«
    Jacobszoon sagte nichts, er sah nur in die Kamera und hörte zu.
    »Der Arzt meinte, ich könnte beide abtreiben, doch das wollte ich nicht.« Die Stimme der jungen Frau, die eigentlich ein Mädchen war, zitterte, und sie schluckte. »Er hat aber auch gesagt, dass ich beide bekommen könnte, also, Sarah und ihre Schwester, Delfin. Nur wär die Gefahr dann sehr groß, dass beide sterben, bei der Geburt, meine ich. Die dritte Möglichkeit, sagte der Arzt, ist, nur eins auszutragen, das gesunde, und das andere abzutreiben, aber das ging jetzt erst, weil das gesunde Kind vorher nicht lebensfähig gewesen wär. Ich hab total viel geweint, die ganze Zeit, weil ich eigentlich beide haben wollte, und jetzt sind auch noch beide da, in derselben Fruchtblase, aber eins ist eben tot. Sarah ist tot.«
    »Und Delfin lebt«, sagte Jacobszoon. »Das ist doch auch wichtig, oder? Das ist das Wichtigste, oder nicht? Delfin lebt und wird leben. Wann ist denn die Geburt?«
    »Ja, also, in drei Wochen, glaub ich. Aber ich muss jetzt andauernd zur Untersuchung. Vielleicht krieg ich auch bald einen Kaiserschnitt.« Die Stimme der jungen Frau, die eigentlich ein Mädchen war, brach. »Ich zwinge mich einfach, nicht daran zu denken, dass ich … also, dass ich ein totes Kind in mir trage. Früher habe ich mit beiden geredet, mit Sarah und mit Delfin, aber jetzt rede ich nur noch mit Delfin.« Sie begann zu weinen, leise, in kleinen Schüben. »Und warum ich anrufe – ich wollte fragen, ob ich das Richtige getan habe. Soll ich denn weiter mit Sarah reden, obwohl sie jetzt tot ist?«
    Einige Sekunden lang sah es so aus, als würde auch Jacobszoon zu weinen beginnen, in der aufgezeichneten Sendung und sogar hier im Studio, denn er gab ein merkwürdiges Geräusch von sich, und als der Commissaris ihm einen Seitenblick zuwarf, sah er, dass seine Augen feucht glitzerten, und seine Mundwinkel zuckten.
    »Was soll ich denn nur tun?«, rief das Mädchen, das jetzt keine junge Frau mehr war, ins Telefon.
    Jacobszoon schwieg, und auch das Mädchen schwieg, und es

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