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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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Was für ein Mensch könnte das Ihrer Meinung nach gewesen sein? Wie würden Sie ihn charakterisieren?«
    Jacobszoon überlegte. »Er wollte ihnen nicht wehtun – kein Messer, keine Pistole, kein Knüppel, nichts, das spitze oder stumpfe Verletzungen zufügt. Das bedeutet, er empfand etwas für sie, Mitleid, Anteilnahme, Verständnis. Jemand, der sich wahrscheinlich für einen guten Menschen hält.«
    »Aber der trotzdem ein Mörder ist«, entgegnete der Commissaris. Er ging zur Tür. »Ich brauche eine Liste von allen Personen, die mit den Briefen und Anrufen an samariter.nl zu tun haben. Ach, was wird eigentlich nach der Sendung mit Anrufern wie dieser jungen Frau – Emma – vorhin? Oder der Mann mit der kranken Frau im Rollstuhl, was wird aus dem?«
    Jacobszoon verschränkte die Arme vor der Brust. »Natürlich versuchen wir, denen, die echte Hilfe brauchen, auch außerhalb der Sendung zu helfen. Das ist vielleicht der einzige Unterschied zwischen Ihrer Arbeit und meiner – wir sind fast immer vor Ihnen da, Mijnheer. Die Menschen, die uns schreiben, die mich anrufen, sind einsam. Sie sind so einsam, dass sie ihr Leben nicht mehr ertragen können. Eine mögliche Folge solcher Einsamkeit ist Gewalt: weil vorher niemand zugehört oder hingesehen hat, weil es nirgendwo Trost oder Hoffnung gab – der alte Mann tötet seine kranke Frau und dann sich selbst, das Mädchen tötet auch noch das gesunde Kind. Und Sie finden sie dann verwirrt bei den beiden kleinen Leichen. Ihnen als Polizeibeamten brauche ich nichtsüber die Mechanismen von Gewalt zu erzählen – wie sie entsteht, wer sie ausübt, wer sie erleidet, wie sie weitergegeben wird. Heleen Soeteman, derentwegen Sie hier sind – ich nenne Frauen wie sie Seelenschildkröten, Wesen, die ohne Panzer geboren werden.«
    Die verschränkten Arme öffneten sich, und Jacobszoon legte die Hände mit den weißen, geschälten Fingern auf die Schreibtischkante. »Manche dieser Frauen spüren instinktiv, was das Schicksal ihnen zugedacht hat, und lassen sich erst gar nicht darauf ein. Keine Männer, keine Gewalt. Sie wenden sich Gott zu, dem Jenseits, verschwinden hinter Klostermauern, tarnen sich mit dem Nonnenhabit. Andere bezahlen mit Einsamkeit, versuchen, niemals aufzufallen, suchen höchstens die Gesellschaft eines Goldfischs oder einer Katze. Jede von denen handelt klüger, als Heleen es getan hat. Heleen fehlte dieses Gespür für ihre eigene Schutzlosigkeit. Sie hoffte immer wieder und wurde stets aufs Neue enttäuscht. Bis ihre tödliche Krankheit ihr keine andere Wahl mehr ließ, als der letzten Enttäuschung zuvorzukommen.«
    »Sie meinen, sie hat ihren Tod selbst herbeigeführt?«, fragte der Commissaris. »Weil es sonst niemand mehr gab, der ihre Einsamkeit geteilt hätte, nur der Mörder?«
    »Nein, niemand«, bestätigte Jacobszoon und sah ihn an. »Sie haben recht, Heleen war einsam. Ihre Einsamkeit verbindet die Opfer mit den Tätern. Eine solche Einsamkeit, Commissaris, das ist, als wäre man lebendig begraben. Als wäre man sein eigenes Grab.«
    »Wenn ich wissen wollte, was Einsamkeit ist, hätte ich Sie danach gefragt«, sagte der Commissaris.

29
    Heldenhaft, barmherzig, entschlossen – aus drei Worten und zwei Löwen, die mit ihren Pranken eine Königskrone hielten, bestand das Wappen der Stadt Amsterdam. Es schmückte die Fassade des Hoofdbureaus van Politie, und es prangte auch über dem Eingangdes Paleis van Justitie an der Prinsengracht. Es war noch nicht lange her, dass Commissaris van Leeuwen gedacht hatte, heldenhaft, barmherzig und entschlossen handeln, ja, das kannst du. Jeder kann das, wenn er nur will. Er wusste nicht mehr genau, wann er aufgehört hatte, daran zu glauben. Er wusste auch nicht, ob er für immer aufgehört hatte oder ob es nur daran lag, dass man manchmal an etwas glauben konnte und manchmal nicht, unabhängig davon, was man gerade tat. Aber er wusste, dass es weder heldenhaft noch barmherzig gewesen war, einen Jungen nachts in der Straßenbahn zu ohrfeigen, wahrscheinlich war es nicht einmal besonders entschlossen gewesen.
    Allerdings schritt der Commissaris an diesem Morgen nicht über die langen, düsteren Korridore des Justizpalastes, weil der Junge ihn verklagt hatte, sondern weil er zur Anklageerhebung in der Strafsache Das Volk gegen Zheng Wu geladen war. Durch die kleinen Fenster der Gänge fiel nur wenig Licht herein. Der Himmel über der Gracht war wolkenverhangen, und die Scheiben knirschten, wenn wieder ein

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