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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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Überwachungsbereich, aber sie blieb auf Distanz zur Kamera. Es konnte ein Mann sein oder eine kräftige Frau, und auch das Gesicht blieb undeutlich; nur ein Kinn unter dem Schirm einer Baseballkappe war zu sehen. Die Hände steckten in den Taschen des Capes und die Schuhe in hellgrauen Gummistiefeln, undalles andere verschwamm unter dem Plastiküberwurf. Es gab keinen Ton, keinen Laut, nur das leise Quietschen des Abspielgerätes.
    Der Mann – später stellte sich heraus, dass es ein Mann war – verschwand aus dem Bild, und jetzt lagen Deck und Auffahrt wieder in derselben unheimlichen Leere, grau und schwarz und dunkel, bis plötzlich etwas Schwarzes von rechts vor die Kamera flog. Der Gegenstand war klein, kaum auszumachen. Er flog ins Bild und blieb liegen, und man hätte ihn vergrößern müssen, um zu erkennen, dass es die Baseballkappe war, die der Mann unter dem Regencape getragen hatte. Einige Sekunden lang passierte wieder nichts, nur die Baseballkappe lag da, aber dann verdunkelte sich der Betonboden ganz rechts auf dem Monitor. Unruhige Schatten huschten hin und her, als fände außerhalb des Bildrandes ein Kampf statt, ein schreckliches, lautloses Ringen. Etwas später wurde ein Fuß sichtbar, ein zuckender Fuß, und gleich darauf ein zweiter, bloß die Füße, die scharrten und zuckten und wieder aus dem Bild verschwanden, und auch die Schatten waren fort. Alles war wie vorher, abgesehen von der Baseballkappe.
    Fast eine ganze Minute verging, in der nichts geschah, in der man nur ahnen konnte, was dort, wo auch der Alfa stand, vor sich ging; dass dort vielleicht gerade ein Mensch starb. Endlich, am Ende dieser Ewigkeiten währenden Minute, tauchte der Mann in dem glänzenden Plastikcape wieder auf. Das Cape war eingerissen, halb zerfetzt, und jetzt konnte man deutlich erkennen, dass es ein Mann war, ein Mann, der humpelte. Nur das Gesicht blieb noch immer unscharf, abgewandt, als er sich nach der Kappe bückte und sie aufsetzte und mit seinen abgehackten, ruckenden, humpelnden Schritten in die Auffahrt eilte, in der er wenig später nicht mehr zu sehen war.
    Zweieinhalb Stunden früher in dieser Nacht hatte Commissaris van Leeuwen noch zu Hause an seinem Schreibtisch gesessen, vor sich die Abendausgabe von De Avond! . Ohne Sakko und Krawatte saß er im Licht der grünen Schirmlampe und blätterte die Zeitung durch, bis er das Impressum fand. Er schrieb die Adresse der Redaktion auf ein Briefkuvert, wobei er zwischen demZeitungsnamen und der Straße genügend Platz frei ließ, um später An den Samariter, dringend! und Persönlich! einzufügen. Er faltete die Zeitung wieder zusammen und warf sie in den Papierkorb unter dem Schreibtisch. Dann schob er den Laptop beiseite, um Platz für einen Schreibblock zu schaffen.
    Unsere einzige Chance, ihn hervorzulocken, besteht darin, das Menschliche im Unmenschlichen zu finden und sich mit diesem Teil seiner Seele zu verbünden.
    Van Leeuwen schraubte seinen Füller auf und drückte ihn mit der Feder gegen das Papier, bis die Spitze sich mit Tinte füllte. Er schrieb:
    Sehr geehrter Samariter,
    Sie sind meine letzte Hoffnung! Ich weiß nicht mehr weiter!
    Ich möchte nicht mehr leben! Ich ersticke!
    Nach diesen Worten hielt er inne, betrachtete sie eine Zeit lang und schraubte schließlich den Füller wieder zu. Bleistift, dachte er, oder Kugelschreiber; einen Hilfeschrei schreibt man nicht mit einem Federhalter auf blütenweißem Papier. Er riss das Blatt ab und warf es ebenfalls in den Papierkorb. Aber wie schreibt man so einen Brief überhaupt? Warum hatte er Jacobszoon nicht gebeten, ihm einige davon zu zeigen, so wie sie bei ihm eingetroffen waren, unredigiert, bevor sie in seiner Kolumne abgedruckt wurden? Er versuchte, sich an die Anrufer in der Sendung auf Veronica zu erinnern, den Tonfall, die Stimmung. Dann dachte er an die Nacht nach Simones Tod, als er allein zu Hause auf dem Bett gesessen und die geladene Luger in der Hand gehalten hatte. Aber er stellte fest, dass diese Nacht auf einmal lange zurückzuliegen schien und ebenso die Einsamkeit und Verzweiflung, die er damals verspürt hatte.
    Je länger er vor dem leeren Blatt Papier im Schein seiner Schreibtischlampe saß, desto klarer wurde ihm, was es bedeutete, einen solchen Brief zu schreiben; jemand in einer ausweglosen Situation um Hilfe zu bitten, einen Fremden. Er griff nach einem Kugelschreiber und versuchte es erneut.
    Sehr geehrter Samariter,
    die Wahrheit ist, dass ich diesen Brief nicht

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