TotenEngel
schreiben möchte. Ich möchte nicht, dass Sie wissen, wie ich mich fühle und wie mein Leben ist. Ich
würde lieber schweigen. Es fällt mir leicht zu schweigen, weil ich niemand habe, mit dem ich reden will. Das, was ich wirklich denke oder fühle,
braucht niemand zu wissen. Die Wahrheit ist auch, dass einige Leute denken, ich wäre verrückt. Ich hatte einmal eine Frau, die ich sehr geliebt habe
und mit der ich über alles reden konnte. Sie hat mich auch geliebt, allerdings hatten wir nicht dieselbe Auffassung von Liebe. Vor einiger Zeit ist
sie gestorben. Aber bevor sie gestorben ist und bevor sie krank geworden ist, hat sie einen anderen Mann gehabt, und deswegen ist die nächste
Wahrheit, dass ich nicht weiß, wie ich noch jemand vertrauen soll. Wenn sie nicht krank gewesen wäre, wenn sie nicht gestorben wäre, wie hätte ich
ihr jemals wieder vertrauen können? Ich habe einen Beruf, in dem man lernt, den Menschen zu misstrauen, und das habe ich ausgehalten, weil man es
aushalten muss und weil jemand mit mir lebte, dem ich vertrauen konnte.
Ich habe versucht, mich umzubringen, aber es ist mir nicht gelungen.
Van Leeuwen sah auf seine Armbanduhr. Es war inzwischen kurz vor halb acht. In zwei Stunden, um halb zehn, traf er sich mit Peer Stoker, dem Mann, der sich für den Alfa interessierte, im Europarking gegenüber vom Hoofdbureau. Er hätte ihm den Wagen lieber bei Tageslicht gezeigt, aber Stoker war bisher der einzige Interessent, und er hatte noch einen Termin um acht, erst danach war er frei. Er halte sich nur für zwei Tage in Amsterdam auf, hatte er gesagt, und wenn man einem Polizeibeamten nicht vertrauen könne, wem dann?
Sehr geehrter Samariter,
ich kann Sie nicht in Ihrer Sendung anrufen, aus Gründen, die ich Ihnen gern persönlich erklären würde, wenn Sie sich mit mir treffen
könnten. Bitte, antworteten Sie mir nicht in Ihrer Kolumne, schreiben Sie mir an das Postfach, das auf dem Absender steht. Schreiben Sie mir, wann
und wo wir uns treffen können. Die letzte Wahrheit ist nämlich, dass ich einsam bin und nicht mehr weiterweiß. Ich kann das Leben nicht ertragen,
ich kann diese Welt nicht ertragen, und die Menschen in ihrem endlosen Leid kann ich auch nicht ertragen.
Van Leeuwen setzte den Kugelschreiber ab und las noch einmal, was er geschrieben hatte. Er starrte auf das Blatt und die Sätze und überlegte. Dies ist mein Angebot, mich mit dem menschlichen Teil deiner Seele zu verbinden, dachte er, damit ich der unmenschlichen Seite das Handwerk legen kann. Er überlegte wieder. Er überlegte lange. Dann unterschrieb er schwungvoll mit:
Ich ersticke! Hochachtungsvoll,
Zheng Wu
Er sah auf und betrachtete das Ausstellungsplakat, das gegenüber seinem Schreibtisch neben dem Fenster hing. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer . Ging das so? Er benutzte den Chinesen als Köder, um den Mörder an einen Ort zu locken, wo er wartete, versteckt im Hintergrund? Er musste den Brief nur noch einmal schreiben, in Chinesenenglisch, und dann dafür sorgen, dass Wu zur selben Zeit auch an diesem Ort erschien, ein angebundenes Lamm für den Tiger. Und wenn etwas schiefging? Göttliche Gerechtigkeit …
Er betrachtete den schlafenden Mann auf dem Goya-Plakat, der über seinem Schreibtisch zusammengesunken war und der genauso gut tot sein konnte, statt zu schlafen. Plötzlich dachte er: Ungeheuer! Er nahm das beschriebene Blatt Papier und zerriss es.
Danach suchte er den Fahrzeugbrief und denVersicherungsschein des Alfa und fand beide in der Schublade der Kommode im Gang, auf der auch das Telefon stand. Er holte seinen Notizblock aus der Innentasche des Trenchcoats am Garderobenständer, blätterte zu der Seite, auf der er die Telefonnummer von Kornelis Jacobszoon notiert hatte, und wählte sie. Nach dem dritten Klingeln sprang am anderen Ende ein Anrufbeantworter an. Van Leeuwen wartete, bis der kurze Begrüßungstext vorüber war, ehe er sagte: »Mijnheer Jacobszoon, Bruno van Leeuwen hier, Kriminalpolizei Amsterdam. Man hat mir ausgerichtet, dass Sie versucht haben, mich zu erreichen. Das trifft sich gut, denn ich möchte auch mit Ihnen sprechen. Sie können mich heute später zu Hause anrufen, egal, zu welcher Zeit.« Er nannte dem Band noch seine Privatnummer, legte auf und wählte erneut, diesmal die Handynummer von Ton Gallo.
Gallo meldete sich fast sofort. Van Leeuwen sagte: »Ton, Bruno hier. Konzentriert euch auf Jacobszoon, unseren guten Samariter – wo er herkommt, ob er
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