TotenEngel
hatte einen Freund unter den Kollegen, einen Mann namens Pieter – Pieter Hoekstra –, um den kümmere ich mich. Ton, du nimmst die anderen, und Julika und Remco, ihrbefragt die Schüler, alle, mit denen er im Unterricht oder im Umfeld der Schule zusammenkam. Vielleicht ging es um Gangs oder Drogen.«
» Bad company «, sagte Vreeling und trommelte mit den Fingern der gesunden Hand auf dem Deckel des Kaffeebechers zwischen seinen Schenkeln herum. »Kümmert sich jemand um die Videoüberwachungskameras in de wallen ? Davon muss es da doch jede Menge geben, bei den ganzen Geschäften und Absteigen. Vielleicht ist der Mörder auf einem der Bänder?«
»Hoofdagent Brugman vom zuständigen Wijkteam kümmert sich darum«, erklärte der Commissaris. »Aber es sind nicht so viele Kameras, wie man denken sollte, und bis jetzt gibt es auch noch kein Ergebnis.«
»Was ist mit der Frau?«, wollte Julika wissen. »Könnte die Frau nicht ein Motiv gehabt haben, ihn umzubringen oder umbringen zu lassen, wenn ihre Ehe am Ende war?«
»Alles ist möglich, wenn eine Ehe am Ende ist«, antwortete der Commissaris und wandte sich wieder nach vorn, um zu sehen, wohin sie fuhren. »Wie lange brauchen wir noch?«
»Nicht mehr lange, nur noch ein paar Straßen«, sagte Gallo. »Die Schule ist beim Oosterpark.«
Hinter der Toronto Brug veränderte sich das Stadtbild: Die Häuser waren nicht länger malerisch, die Bäume nicht mehr dicht belaubt, und in der Luft hing Staub, den der Wind aufwirbelte. Unter den Passanten auf den Gehwegen tauchten mehr Frauen mit Kopftüchern auf, die hinter ihren Männern gingen. In den Geschäften gab es jetzt Sanitärbedarf, Autozubehör und verstaubte Multimedia-Artikel mit roten Import-Export-Preisen auf Pappschildchen. Alle paar Häuser stand ein schmutziger Tisch mit zwei Plastikstühlen vor einer Stehkneipe oder einer Imbissbude, und die Spielplätze dienten als Müllplätze für Bierflaschen, Dönertüten und Pizzakartons. Dazwischen erhob sich eine zweistöckige Moschee, die aus hellen Klinkersteinen gebaut und auf dem Dach mit einem vergoldeten Halbmond geschmückt war.
Der Commissaris lehnte sich zurück. Er hatte geschlafen, zuHause auf der Couch, allerdings unruhig. Das Septemberlicht lag gleißend auf der schlierigen Frontscheibe, und die Wärme im Wagen hüllte ihn in selten gewordenes Behagen. Jetzt war er ein Mann, der seine Arbeit tat, unterstützt von seinen Mitarbeitern – nicht hinter einem Schreibtisch, sondern draußen, wo er immer am liebsten gewesen war, auf dem Platz. Der Trainer und seine Mannschaft.
Und das war die Mannschaft: Hoofdinspecteur Ton Gallo, sechsundvierzig, der Mittelstürmer, Polizist ohne Rückversicherung und Scheuklappen, sein engster Freund und einer der wenigen Menschen, vor denen Simone keine Angst gehabt hatte, als sie während ihrer Krankheit nach und nach immer scheuer geworden war. Gallo hatte als Freiwilliger bei der niederländischen Friedenstruppe auf dem Balkan gedient, und seitdem – seit der Belagerung von Sarajewo, seit den Massengräbern von Srebrenica – hatte er nicht mehr gelacht. Gelächelt ja, aber laut gelacht nicht. Im Dienst war er kompromisslos und machte nichts halb; nur außerhalb der Dienststunden ließ er dem Unfertigen Raum. Ein Dichter, der nicht dichtete; ein Maler, der nie malen würde; ein Philosoph, der über seine Gedanken schwieg. Aber auch ein Restaurator: von gebrochenen Biografien, verborgenen Tatabläufen und – als Hobby – immer wieder von Riki Tiki Tavi, dem Hausboot, das er samt Liegeplatz von seinem Vater geerbt hatte.
Gallo hörte gern Zigeunerjazz, Django Reinhardt, und las russische Schriftsteller, am liebsten Tschechov. Er kleidete sich wie Saint Exupéry auf den Fotos, die ihn vor seiner einmotorigen Maschine im Zweiten Weltkrieg zeigten: immer dieselbe Jacke aus dunkelbraunem Leder, beige Leinenhosen, hellblaue Baumwollhemden, dazu weiße Schals, allerdings Turnschuhe statt der Stiefel. Seine bernsteinbraunen Augen waren hellwach, selbst wenn er eigentlich todmüde sein musste, und das blonde Haar sah immer aus, als wäre er gerade aus dem Bett gekommen, aber nie ungepflegt.
Wenn Gallo der Mittelstürmer war, was konnte dann Brigadier Tambur sein? Eine gute Verteidigerin, hervorragend in der Abwehr? Sie hatte lange Beine und einen langen, schlanken Hals, und dasblonde Haar fiel ihr inzwischen voll und schimmernd über den Nacken bis hinunter zu den Schulterblättern, wie in einer Shampoo-Reklame,
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