Totenfeuer
bis heute kaum etwas über sie, und ihre Krise vor zwei Jahren hat offenbar auch niemand bemerkt.
»Ja, das mag sein«, räumt Frau Cebulla ein. »Aber Dr. Felk hat mich erst einmal aus meinem tiefen Loch geholt. Er hat das Übel an der Wurzel gepackt.«
»An welcher Wurzel denn?«
»Er hat eine Familienaufstellung gemacht.«
»Erzählen Sie!«
»Nun, dabei ist herausgekommen, dass unsere Familie meiner älteren Schwester, die als Baby am plötzlichen Kindstod gestorben ist, im Lauf der Jahre viel zu wenig Beachtung geschenkt hat. Das stimmt auch, meine Mutter hat mir nur ein Mal von ihr erzählt, ich wusste nicht einmal ihren Namen.«
»Waren Sie überhaupt schon geboren, als Ihre Schwester starb?«
»Nein, ich kam erst drei Jahre nach Judith zur Welt, aber das tut nichts zur Sache. Eine Familie ist ein System, das eine Ordnung braucht, und wenn die Ordnung gestört ist, dann kommt es zu unguten Verstrickungen. So hat Dr. Felk mir das erklärt. So kann es passieren, dass ein anderes Geschwisterkind aus scheinbar unerklärlichen Gründen Schuldgefühle hat oder depressiv, krank oder sogar selbstmordgefährdet ist.«
»Und wie hat er das Problem dann gelöst?«, fragt Oda gespannt.
»Indem er Kontakt zu meiner Schwester aufgenommen hat. Sie hat mich wissen lassen, dass sie sich vernachlässigt fühlt. Danach bin ich mit meiner Mutter zu ihrem Grab gefahren. Seitdem gehe ich alle paar Wochen dorthin und bringe ihr Blumen, und es geht uns beiden besser.«
Oda schaut Frau Cebulla entgeistert an.
»Ja, ich weiß, wie sich das anhört«, winkt Frau Cebulla verlegen ab. »Aber so war es. Kriegen Sie das Schwein, das das getan hat!« Mit dieser Aufforderung verlässt die Sekretärin energischen Schrittes den Raum.
Oda schaut eine ganze Weile nachdenklich auf ihre Schreibtischunterlage, kommt schließlich zu dem Fazit Wer heilt, hat recht und steckt sich einen Zigarillo an. Nach zwei Zügen merkt sie, dass er ihr überhaupt nicht schmeckt. Irritiert nimmt sie noch einen dritten Zug. Sie verspürt einen Anflug von Übelkeit. Nein, das ist im Moment einfach nicht das Richtige. Sie drückt den Rillo aus und öffnet das Fenster. Vor der Kulisse des über hundert Jahre alten Gefängnisbaus gegenüber fällt leise rauschend ein sanfter Frühlingsregen, untermalt von Vogelgezwitscher. Herrlich, diese Luft. Seit sie sich von Herrn Tangs Liege erhoben hat, geht es ihr prächtig. Ihr Körper fühlt sich leicht und beweglich an, und sie ist voller Zuversicht, was die Sache mit Veronika angeht. Alles wird gut, sagt sich Oda, man muss nur daran glauben. Sie kramt die Visitenkarte von Tian Tang heraus und wählt seine Handynummer: »Herr Tang, eine Frage. Hat Ihr Kollege sich vor drei Jahren mal über eine Exgeliebte beklagt, die ein wenig lästig und aufdringlich geworden ist? Ihr Vorname beginnt vermutlich mit F .«
»Nein, bedaure«, antwortet der Chinese. »Über solche Dinge haben wir nie gesprochen.«
»Vielleicht ist sie ja mal in der Praxis aufgetaucht?«
»Nun, ich erinnere mich vage an einen Vorfall mit einer Dame, die hierherkam.«
»Können Sie sie beschreiben?«
»Das ist schon länger her, und ich habe sie nur ganz kurz gesehen, als er sie sozusagen fast mit Gewalt rausgeworfen hat. Es war mir peinlich und ihm erst recht, also habe ich mich sofort zurückgezogen.«
»War es eine Patientin?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich kenne zwar einige, aber nicht alle. Wir waren ja nicht immer gleichzeitig in der Praxis.«
»Ich danke Ihnen.«
»Frau Kristensen – ich hätte auch eine Frage!«
»Was denn?«
»Wie geht es Ihrem Rücken?«
»Blendend, vielen Dank noch mal. Ich komme bestimmt noch einmal wieder.«
»Und haben Sie, seit Sie hier waren, schon geraucht?«
»Sie haben gesagt eine Frage«, antwortet Oda und legt auf.
Nachdenklich betrachtet sie die Schachtel mit den Rillos. Sie riecht daran. Sie duften immer noch gut, aber seltsamerweise verspürt sie keine Lust, sich einen anzustecken. Sie macht es trotzdem. »Wäre ja noch schöner«, murmelt sie halblaut vor sich hin. Aber nach zwei Zügen macht sie ihn aus. Er schmeckt heute einfach nicht. In dem Moment klopft es.
Fernando tritt ein, er sieht aus wie ein begossener Pudel, was nicht an seinen gegelten schwarzen Locken liegt, sondern an seiner Haltung. »Oda, hast du kurz Zeit?«
»Was ist los?«
»Wegen Veronika … ich war gestern im Pavillon.« Fernando erzählt, was er gesehen hat.
Oda bleibt ruhig, zu ruhig, sie sagt gar nichts, eine ganze
Weitere Kostenlose Bücher